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Frankreich im Aufbruch

Von Henrik Uterwedde

Gastkommentare

Gastkommentar: Die Bilanz der ersten 50 Tage der Präsidentschaft Emmanuel Macrons ist durchaus ermutigend.


Beginnt in Frankreich eine Phase grundlegender Veränderungen? Der neue Präsident Emmanuel Macron hat einen überzeugenden Start hingelegt. Mit Entschlossenheit und Klugheit wirbt er um politische und gesellschaftliche Zustimmung für seine Reformen.

Die Autoren des diesjährigen im August erscheinenden ""Sustainable Governance Indicators Report" der Bertelsmann-Stiftung urteilten kurz vor den Präsidentschaftswahlen über den Reformbedarf und die Regierungsfähigkeit im Land: "Frankreich braucht mutige Maßnahmen, die klare, teilweise unpopuläre Entscheidungen umfassen, eine offene Benennung der Probleme, mehr sozialen Dialog und ein koordiniertes Regierungshandeln aus einem Guss." Vor diesem Hintergrund sind die ersten 50 Tage der Präsidentschaft Macrons durchaus ermutigend: Er will die wesentlichen strukturellen Schwierigkeiten des Landes überwinden. Probleme, die seit langem bekannt sind und auch in den "Social Governance Indicators Reports" vergangener Jahre benannt wurden - Bürokratie, Staatsverschuldung, Arbeitsmarkt, berufliche Ausbildung, Sozialstaat, Modernisierung der sozialen Verhandlungen -, stehen auf seiner Reformagenda. Er ist entschlossen zu handeln - und das schnell.

Die Baustellen: Arbeitsmarkt, Bildung, Steuern und Schulden

Priorität hat die heftig umstrittene Arbeitsmarktreform. Sie soll den Firmen mehr Spielraum geben, ihre Personalpolitik an ihre wirtschaftliche Lage anzupassen. Unternehmensvereinbarungen zu Beschäftigung, Arbeitszeit, Eingruppierung und Lohnstruktur sollen möglich werden, auch wenn sie von den Regeln der Branchenvereinbarungen abweichen. Der Präsident will den sozialen Dialog in Unternehmen erleichtern und die oft langwierigen und kostspieligen Arbeitsgerichtsprozesse nach Kündigungen vereinfachen und im Gegenzug die sozialen Rechte der Arbeitnehmer auf Weiterqualifizierung stärken und die Leistungen der Arbeitslosenversicherung verbessern. Noch im Juli will Macron die pauschale Ermächtigung des Parlamentes einholen, diese Reform auf dem Verordnungsweg zu realisieren. Damit hätte er freie Hand, die gleichzeitig anlaufenden intensiven Konsultationen mit Gewerkschaften und Unternehmerverbänden durchzuführen und flexibel auf deren Kritik zu reagieren. Schon im September soll das Parlament dann die geplanten Verordnungen billigen. Dieses Reformvorhaben hat neben seiner großen ökonomischen Bedeutung auch eine wesentliche politische: Es ist der Lackmustest für die Fähigkeit Macrons, auch unpopuläre Entscheidungen politisch durchzusetzen und das Land tatsächlich zu verändern.

Ein zweiter Schwerpunkt des Präsidenten liegt auf Sofortmaßnahmen zur beruflichen Qualifizierung von Arbeitslosen sowie auf einer Reform des Systems der beruflichen Ausbildung, die 2018 beschlossen werden soll. Ziel ist die Ausweitung dualer, das heißt alternierend in Schulen und Firmen realisierter, Ausbildungen von Lehrlingen. Auch dies berührt einen neuralgischen Punkt des bisherigen Systems: Für Schulabgänger existieren hohe Barrieren, die ihre erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt behindern und zu einer notorisch hohen Jugendarbeitslosigkeit führen.

Um ein Signal für die schwierigen sozialen Brennpunktviertel in den Vorstädten zu setzen, hat drittens auch die Neueinstellung von Lehrern beim Präsidenten Priorität. Damit will er die Größe der Klassen in den dortigen Grundschulen halbieren.

Eine vierte Baustelle betrifft die Steuer- und Abgabenpolitik. Macron will die Unternehmen weiter und dauerhaft entlasten, aber auch die Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen stärken. Der finanzielle Spielraum dafür ist allerdings eng, weil Präsident Hollande weit höhere Defizite hinterlassen hat als bisher angenommen. Zudem will Macron unbedingt die Neuverschuldung unter die 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU drücken, um Frankreichs Glaubwürdigkeit gegenüber den EU-Partnern zu stärken. Dies könnte Abstriche oder Verzögerungen bei manchen geplanten Ausgaben erzwingen.

Auch wenn die Agenda des Präsidenten überzeugend ist und seine Vorhaben die Kernprobleme des Landes angehen, braucht er die politische Unterstützung, sie durchzusetzen. Wie ist es hier um seine Fähigkeiten bestellt?

Die institutionellen Voraussetzungen sind positiv: Der Präsident verfügt über eine klare Regierungsmehrheit im Parlament. Ferner sind Präsident und Premierminister laut Verfassung der Fünften Republik prinzipiell in der Lage, die Regierung effektiv zu führen, den einzelnen Ministern die Richtlinien der Regierungsarbeit vorzugeben und für eine effektive Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen durch die Verwaltung zu sorgen.

Gefragt sind Entschlossenheit und Verhandlungsgeschick

Die politischen Bedingungen sind ebenfalls günstig, denn es ist Macron gelungen, die traditionelle, oft ideologisch verhärtete und damit sterile Links-Rechts-Polarisierung aufzubrechen und eine breite Zustimmung für seinen Kurs der Mitte zu erreichen. Damit kann er erstmals gemäßigte, reformbereite Kräfte der Linken und der Rechten zu einer Reformkoalition zusammenführen. Macron will schnell handeln, weil Reformen Zeit brauchen zu wirken, aber auch, weil er die gegenwärtig noch hohe Zustimmung der Wähler für seinen Reformkurs nutzen will. Während sein Vorgänger François Hollande an der Unterstützung durch seine Sozialistische Partei scheiterte, steht die von Macron im Vorjahr gegründete Bewegung La République en Marche bisher voll hinter seinen Reformplänen.

Eine andere Frage ist, inwiefern der in Frankreich traditionell starke soziale Widerstand und die weit verbreitete, teilweise aggressive Aversion gegen jegliche wirtschaftsliberale Maßnahmen überwunden werden können. Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit immer wieder große soziale Proteste gegen solche Reformen organisiert. Sie drohen offen mit einer Kraftprobe im September, wenn die geplante Arbeitsmarktreform im Parlament beschlossen werden soll. Auch deshalb versucht Macron bei aller Eile, die Sozialpartner durch eine intensive Dialogstrategie politisch einzubinden. Er will die in Teilen des Gewerkschaftslagers durchaus vorhandene Bereitschaft zu Veränderungen nutzen. Die Regierung hat deshalb umfassende Konsultationen mit jedem einzelnen der acht wichtigsten Gewerkschafts- und Unternehmensverbände begonnen, die insgesamt 48 Gesprächsrunden umfassen.

Macron wird seine Entschlossenheit, aber auch all sein Verhandlungsgeschick brauchen, um die Nagelprobe der Arbeitsmarktreform erfolgreich zu bestehen. Erst dann wird man wirklich sicher sagen können: Frankreich bewegt sich.

Mehr Details zum "Sustainable Governance Indicators Report":
http://www.sgi-network.org/2016/France