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Erdogan regiert mit "subtilem Terror"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Chef des Auslandsressorts bei den "Salzburger Nachrichten".
© privat

Das Ausnahmerecht entzieht den Präsidenten jeder demokratischen Kontrolle und durchsetzt die Türkei mit allgemeinem Misstrauen.


Kurz vor dem Prozessbeginn gegen 17 Mitarbeiter der links-liberalen Zeitung "Cumhuriyet" wegen angeblicher Terrorunterstützung warnte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel: "Deutsche Staatsbürger sind in der Türkei nicht mehr vor willkürlichen Verhaftungen sicher. Wir können nicht mehr so weitermachen wie bisher." Gabriel verwies auf die Verhaftung von sieben deutschen Teilnehmern eines Menschenrechtsseminars in Istanbul wegen angeblicher Terrorunterstützung und auf willkürliche Enteignungen. Deshalb würden die Bürgschaften zur Absicherung von Geschäften schärfer geprüft. Nicht erwähnt wurde, dass in der Türkei 681 deutsche Firmen auf einer schwarzen Liste angeblicher Terrorunterstützer standen (die am Montag zurückgezogen wurde).

Nicht nur Deutschland kann nicht mehr so weitermachen wie bisher. Nach dem gescheiterten Putsch im Juli 2016 stellte Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Land unter Ausnahmerecht und kann ohne jede Kontrolle durch Parlament oder Justiz per Dekret regieren. Er feuerte ohne jeden Beweis an die 150.000 Staatsdiener - besonders zielsicher an Unis und in der Justiz -, ließ knapp 60.000 Personen wegen unterstellter Kooperation mit Terroristen in U-Haft nehmen (die rechtens bis zu fünf Jahre dauern kann), schloss dutzende Medienunternehmen und setzte 160 "unbotmäßige" Journalisten in Haft.

Dazu drohen bis zu vier Jahre Haft bei Präsidentenbeleidigung. Schon im April 2016 wurden Auslandstürken aufgefordert, jeden zu melden, der Erdogan beleidigt. Da die Opfer von den Denunziationen nichts wissen, können Heimaturlaube von Auslandstürken oder Türkei-Reisen Unbescholtener in Haft enden.

Dieses Beispiel zeigt die Wirkung des "subtilen Terrors", den Erdogan unter Ausnahmerecht verbreitet: Misstrauen, weil jeder Gesprächspartner ein Denunziant sein könnte. Autokraten und totalitäre Regimes schützen sich so gegen Verschwörungen. Folgerichtig beschuldigte Erdogan auch seinen seit 1999 im US-Exil lebenden früheren Kampfgefährten Fethullah Gülen, mit seinen Anhängern in der Armee den gescheiterten Putsch inszeniert zu haben. Die Armee sieht sich aber als Hüterin des Laizismus und Sicherung gegen die unterdrückte kurdische Minderheit. Der Vorwurf, der einflussreiche muslimische Prediger Gülen habe die Armee unterwandert, lässt daher den Schluss zu, dass Erdogans Geheimdienste stümperhaft oder bewusst irreführend arbeiteten.

51 Prozent der Türken stimmten im April für die neue Verfassung, die ungefähr Erdogans Macht unter Ausnahmerecht entspricht und vor allem das Höchstgericht dem Präsidenten unterwirft - bei den Wahlen 2015 hatte die Koalition seiner AKP mit der nationalistischen MHP noch 61 Prozent. Verständlich, dass Erdogan den jüngsten dreiwöchigen "Marsch für Gerechtigkeit" hunderttausender Türken über 430 Kilometer von Ankara nach Istanbul mit einer Abschlussdemonstration von 1,5 Millionen nicht störte: Jedes Eingreifen wäre politisch hoch riskant gewesen und blutig verlaufen.

Trotz alldem sollten die Kontakte zur Türkei nicht völlig abreißen. 49 Prozent Gegner der Verfassung verweisen darauf, dass es auch eine Türkei nach Erdogan geben wird.