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Europäische Solidarität

Von Wolfgang Schmale

Gastkommentare
Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien.
© privat

Ohne Solidarität kann die EU nicht funktionieren, zugleich ist sie ihre Achillesferse.


Die Rede zur Lage der Europäischen Union des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker vergangene Woche hat einige Wellen geschlagen. Vor allem seine Äußerungen zur Entwicklung der Eurozone sind auf heftigen Widerspruch gestoßen, obwohl er im Grunde nur an die im EU-Vertrag formulierten gemeinsamen Ziele erinnert hat.

Darüber sind viele andere interessante Aspekte seiner Rede unbeachtet geblieben. Zu diesen Aspekten gehört zum Beispiel das ethisch-politische Prinzip, Solidarität zu üben. Juncker sagte wörtlich: "Europa ist und bleibt der Kontinent der Solidarität."

Tatsächlich ist Solidarität schon ein Schlüsselbegriff der Debatten um die europäische Einigung zwischen den beiden Weltkriegen. Und erst recht nach 1945. Mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 vermehrten sich öffentliche Appelle an die europäische Solidarität massiv. Als 2014 die Zahl der Flüchtlinge, die aus Syrien, Nordafrika, Afghanistan und anderen Ländern kamen, deutlich zu steigen begann, wurde allenthalben europäische Solidarität zur Bewältigung der "Flüchtlingskrise" eingefordert.

Solidarität stellt außerdem einen Schlüsselbegriff in den geltenden EU-Verträgen dar. Ganz klar: Ohne Solidarität kann die EU nicht funktionieren, zugleich ist das Üben von Solidarität ihre Achillesferse, weil praktische Solidarität immer irgendwen viel Geld kostet und weil religiöse und ethnische Vorurteile im unaufgeklärten Europa des 21. Jahrhunderts recht verbreitet sind.

Ein wenig muss dieser Befund bestürzen, denn Solidarität existiert als ethisch-politisches Prinzip bereits seit der Antike. Es war folglich Zeit genug, um zu lernen, was praktische Solidarität ausmacht. Natürlich ist Solidarität irgendwie ein Plastikwort, dessen genaue Bedeutung sich immer wieder etwas geändert hat, aber spätestens seit der Französischen Revolution (1789 bis 1799) hat sich unser moderner Begriff von Solidarität stabilisiert: Er wurde inhaltlich durch zwei andere Revolutionsbegriffe, nämlich Brüderlichkeit und Gleichheit, aufgefüllt.

Mit dieser Ausrichtung wurde Solidarität zu einem zentralen Prinzip der Arbeiterbewegung und entwickelte sich weiter zur "internationalen Solidarität" zum Beispiel der sozialistischen Staaten. Aber schon im 19. Jahrhundert wurde das Verhältnis der werdenden europäischen Nationalstaaten als - wünschenswerterweise - brüderlich angesehen. In der gegenseitigen Anerkennung des Rechts auf einen Nationalstaat steckte das Gleichheitsprinzip in Bezug auf die Gleichheit der moralisch-politischen Berechtigung, einen Nationalstaat haben zu dürfen. Der große französische Dichter Victor Hugo hat schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts exakt dieses Verständnis von Europa als einem Europa der brüderlichen Nationen in lange nachwirkende Dichterworte gefasst.

EU-Kommissionspräsident Juncker greift natürlich nicht so weit historisch aus, aber - und das sind die Aspekte, die seine Rede über die Knaller wie Euro und EU-Erweiterung hinaus interessant machen - er verknüpft die beiden historischen Bedeutungsstränge von Solidarität. Er spricht einerseits von innereuropäischer Solidarität, andererseits besonders auch von Solidarität mit Afrika. In der Frage der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen in der EU trifft beides zusammen: innereuropäische und internationale Solidarität.

Damit tun sich die Mitglieder der EU, um es vorsichtig auszudrücken, schwer. Dies liegt nicht nur daran, dass Solidarität üben unterm Strich immer einen materiellen (also finanziellen) Aspekt hat, sondern auch an den unterschiedlichen nationalen Traditionen. Obwohl die europäischen Staaten alle zum Typ des Wohlfahrtsstaats gehören, der durch Umverteilung kollektive Solidarität herstellt, sind die Unterschiede historisch bedingt groß geblieben.

Um nur wenige Beispiele zu nennen: In Frankreich wird Solidarität immer noch stärker als Arbeitnehmersolidarität verstanden, die einen klaren Gegner kennt: die Unternehmen und den Staat. Die österreichische Sozialpartnerschaft und (wenigstens ehemalige) Konkordanzdemokratie hingegen haben solche Gegensätze deutlich entschärft. In Ländern mit massiven Korruptionsproblemen wie beispielsweise Bulgarien und Rumänien besitzt Solidarität eher Bedeutung im familiären und zivilgesellschaftlichen Bereich, weniger im öffentlichen.

Es ist daher festzuhalten, dass Solidarität einerseits seit der Antike zur politischen Philosophie und Ethik Europas gehört, andererseits bis heute in der Praxis äußerst unterschiedlich ausfällt. Insoweit sind die Probleme mit der innereuropäischen Solidarität, die einen zentralen Aspekt der politischen Philosophie der EU darstellt, programmiert. Bisher hat sich das, was wir "Europäische Integration" nennen, viel zu wenig auf die tatsächliche regionale oder nationale historische Tradition und Praxis scheinbar uralter politisch-ethischer Prinzipien bezogen.

Juncker wischt über diese Widersprüche hinweg, wenn er im Zusammenhang der Versorgung von Flüchtlingen EU-Europa bescheinigt, der "Kontinent der Solidarität" zu sein. Nun besteht seine Aufgabe darin, die Mitglieder zu ermutigen, und da ist Lob hilfreich - aber unsere Aufgabe als Bürger ist es dann, zentrale Grundsätze wie Solidarität europaweit zu debattieren, um die Integration auch auf der Ebene genau dieser politisch-ethischen Prinzipien zu entwickeln.

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