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Stabilität nach dem Erdbeben?

Von Michael Gehler

Gastkommentare
Michael Gehler ist Gründungsdirektor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2013 bis 2017) und seit 2006 Jean-Monnet-Professor für vergleichende europäische Zeitgeschichte an der Universität Hildesheim. Foto: privat

Deutschland ist ein gespaltenes Land - das hat die jüngste Bundestagswahl deutlich gemacht.


Heute, am 3. Oktober, wird der Tag der Deutschen Einheit begangen. 27 Jahre nach der offiziellen Einigung ist das Land immer noch gespalten, wie die vergangene Bundestagswahl gezeigt hat.

Vorentscheidungen

Am Anfang wurde Martin Schulz mit 100 Prozent vom Parteitag der SPD zum Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten gewählt. Ein Hype setzte ein, mit dem er wohl nicht gerechnet hatte. Wie einen Heilsbringer machten ihn die Medien groß. CDU und CSU wurde es mulmig. Sie hatten schon keinen gemeinsamen Kandidaten für den Bundespräsidenten zusammengebracht und Frank Walter Steinmeier als Staatsoberhaupt akzeptieren müssen. Bis dato stritt man unter den Schwesterparteien über die Obergrenze in der Flüchtlingsfrage. Als Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer Angela Merkel öffentlich demütigte, merkte man ihr den Unmut an. Sie bewahrte Ruhe, doch die war trügerisch. Der CDU-Sieg im Saarland verhieß dann bessere Aussichten, und im Kernland der Sozialdemokratie, Nordrhein-Westfalen, folgte eine krachende Niederlage für "Landesmutter" Hannelore Kraft, von der sich die SPD nicht mehr erholte.

Vergeblicher Kampf

Schulz setzte auf eine Wechselstimmung. Slogans wie "Es ist Zeit" und "Für mehr Gerechtigkeit" sollten helfen, indem zentrale Themen (Bildungsmisere, Kindergärten, Mieten, Pflege, Mängel in westdeutscher Infrastruktur, Renten) angesprochen wurden. Er präsentierte sich als Zukunftsgestalter, während Kanzlerin Angela Merkel als Status-quo-Verwalterin erschien. Doch auch wenn er mehr kämpfte, sanken seine Umfragewerte. Das Engagement des Altgenossen Gerhard Schröder im Aufsichtsrat des russischen Energiekonzerns Rosneft war keine Hilfe. Schulz konnte nur betonen, dass er an Schröders Stelle diesen Posten nicht annehmen würde.

Demonstrative Ignoranz

Im Zeichen der unsicheren internationalen Lage und der EU-Krisen fühlten sich viele bei Merkel besser aufgehoben. Schulz konterte zwar ihren Wahlspruch mit: "Deutschland geht es gut, ja. Aber nicht allen Deutschen geht es gut." Doch auch das half nicht weiter. Das CDU-Programm griff zudem viele SPD-Positionen auf, und Merkel ruhte sich auf ihrem Vorsprung aus. In ihren Reden ignorierte sie Schulz. Für den Koalitionspartner hatte sie mit Blick auf das unrealistische rot-rot-grüne Schreckgespenst nur etwas übrig wie: "Sie können die SPD fragen, was und wann sie will - Sie bekommen keine Antwort."

Kein Duell um Platz eins

Die TV-Konfrontation war die letzte Hoffnung für Schulz, doch das Duell wurde zum Duett, zumal die Moderatoren den brennenden Fragen des Landes nicht genug Raum gaben. In der direkten Begegnung machte sich Merkel schnell Schulz’ Positionen zu eigen, wie zum Beispiel die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Er forderte eine zweite TV-Debatte, doch Merkel ließ ihn abblitzen. In TV-Publikumsbefragungen wurde es für sie schon schwieriger, zumal dann, wenn Alltagsprobleme auftauchten: Als ein junger Krankenpfleger mit erschreckenden Defiziten in seinem Berufsfeld auftrat, wirkte sie überfordert: "Das treibt uns auch um", sagte die Frau, die vor allem umtrieb, unbedingt weiterzumachen.

Dominantes Flüchtlingsthema

Breite Grundsatzdebatten fehlten im Wahlkampf, etwa über die in Deutschland noch nicht angenommene Herausforderung der Digitalisierung. Dagegen wirkte das Flüchtlingsthema im Finale als Merkel-Malus. Die Spekulation auf das Kurzzeitgedächtnis der Deutschen ging nicht auf, zu stark hatten sich die Bilder von den Flüchtlingsmassen im September 2015 eingeprägt, auch weil bis zuletzt offen war, wie das "Wir schaffen das!" eigentlich zu schaffen war. Hunderttausende Menschen ohne Asylanspruch wurden nicht abgeschoben, und wenn doch, dann wurde dagegen geklagt. Sorgen der Bürger wurden relativiert und Kritik auf rassistische Phobien reduziert. Ein Einwanderungsgesetz zur Beendigung des Asylmissbrauchs und zur Regelung des Zugangs zum Arbeitsmarkt gab es nicht.

Nutzlose Manöver

Der von Finanzminister Wolfgang Schäuble vor der Bundestagswahl ausgeworfene Köder der Steuerentlastung für die Bürger lockte nicht mehr. CSU-Chef Horst Seehofer aktivierte im Zeichen innerparteilicher Rivalen im bayerischen Wahlkampf den wegen des Plagiats seiner Doktorarbeit gefallenen Ex-Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg, was der CSU nicht weiterhalf und "Dr. Googleberg" kein innenpolitisches Comeback bescheren dürfte.

Wahlhilfe für die AfD

Die Querelen zwischen CSU und CDU wirkten nach. Zwischenzeitlich wurde der Dissens kaschiert. So kritisierte Seehofer - Synonym des Widerspruchs und immer für eine Rolle rückwärts gut - erst Merkel mehrfach in der Flüchtlingsfrage, dann hielt er sie für "die beste Kandidatin". Für viele CSU-Anhänger war das nicht mehr nachvollziehbar. Sie wählten entweder CSU trotz Merkel oder wanderten zu FDP und AfD ab. Letztere hatte frech plakatiert: "Wir halten, was die CDU verspricht." Die vor allem von Männern gewählte AfD war im Osten zweitstärkste und in Sachsen sogar stärkste Partei (27 Prozent).

Der andere Osten

Aufgestauter Frust machte sie zum Sprachrohr der Unzufriedenen. Ostdeutschland hatte schon seit jeher weniger Vertrauen in das politische System der Bundesrepublik. Früher konnten die NPD und die DVU dort Erfolge einfahren, deren Wähler nun die AfD suchten. In Dresden erfolgte ein Schulterschluss mit Pegida. Der Soziologe Holger Lengfeld sieht in den AfD-Wählern weniger wirtschaftlich Abgehängte, sondern vor allem kulturell Unzufriedene ohne vergleichbare Erfahrungen mit Migranten wie im Westen. Er nennt das fast zynisch einen "kulturellen Modernisierungsrückstand". Nicht mit ihnen zu reden, wäre seiner Auffassung der völlig falsche Ansatz.

Rückzug in den Schmollwinkel

Die SPD verkündete gleich am Wahlabend das Ende der großen Koalition und den Gang in die Opposition. In der Berliner Runde wurde Schulz erst richtig angriffslustig, giftig und griffig, als er den "skandalösen Wahlkampf" der Kanzlerin kritisierte. Zuvor hatte er sie schon als "prinzipienlos" und als "Weltmeisterin des Ungefähren" bezeichnet. Der Politologe Karl-Rudolf Korte bezeichnet die große Koalition als "Stillhalteabkommen über ein Minenfeld" und als "Umarmungsdemokratie". Sie stand für den Verlust an Debattenkultur im Bundestag, die in TV-Talkshows verlegt worden war. So langweilig zuletzt der Wahlkampf um Platz eins war, so fehlte es nicht an Spannung beim Rennen um Platz drei. Die gesteigerte Wahlbeteiligung von 76 Prozent spricht dafür.

Ein Plebiszit gegen Merkel?

Korte bezeichnet das Wahlergebnis als "nachträgliche Volksabstimmung über die Flüchtlingsfrage" und damit auch als Votum gegen die Kanzlerin. Sie selbst hatte großen Anteil am Wahlausgang durch die Unterschätzung der Zuwanderungsthematik. 37 Prozent der Gesamtbevölkerung fanden es zum Beispiel auch gut, dass die AfD den Einfluss des Islam in Deutschland verringern will. Doch war sie intern arg zerstritten. Ihr Chef Alexander Gauland, ein enttäuschtes einstiges CDU-Mitglied, nannte die AfD einen "gärigen Haufen". Parteisprecherin Frauke Petry erklärte ihren Austritt aus Bundestagsfraktion und Partei, weil sie in ihr keine Chance zur mittelfristigen Regierungsfähigkeit sieht.

Jamaika: Mission impossible?

Alle Zeichen stehen nach dem SPD-Rückzug auf eine schwarz-gelb-grüne Koalition. Der Alt-Grüne Jürgen Trittin brachte dabei die Quadratur des Kreises auf den Punkt: Die CDU müsse nun "ökologischer", die CSU "liberaler" und die FDP "sozialer" werden. Deren Solist Christian Lindner fordert nicht nur eine innenpolitische "Trendwende", sondern auch Distanz mit Blick auf die von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron vorgeschlagene vertiefte deutsch-französische Partnerschaft, zumal wenn diese auf vermehrte finanzielle Transfers hinausläuft. Der bayerische Gummilöwe verlangt schon kleinlauter: "Kein weiter so!", um die "rechte Flanke" zu schließen. Ob Merkel so die "progressive Mitte" halten kann? Sie hat aus der CDU eine Anti-Atom-, Griechenland-Rettungs- und Flüchtlingspartei gemacht, sich also schon lange von der rechten Mitte abgesetzt.

Alternative Politik?

Seehofer wollte nicht zurücktreten, Merkel gab sich uneinsichtig: "Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten" - eine unverständliche Reaktion auf die Verluste. Sie setzte weiter auf Duldungsfähigkeit und Zutraulichkeit der Wähler. Doch die hatten die "Volksparteien" schon abgestraft. Entpolitisierung als Methode, Entscheidungslosigkeit und Verweigerung von Debatten wie über die Erhöhung des Pensionsantrittsalters oder des Familiennachzugs von Flüchtlingen ließen ein politisches Vakuum entstehen, das am Wahltag gefüllt wurde. Die Fokussierung auf die AfD führte zudem zur Blockade kontroverser Debattenfähigkeit. Die Linke attackierte mit Sahra Wagenknecht unentwegt, aber eher erfolglos die "Nazi-Partei".

Ämter mit Ablaufdatum

Nach der Wahl beherrschten Personaldebatten die einstigen Groko-Parteien. FDP und Grüne schienen mehr auf Inhalte zu schauen. Durch das "linke Urgestein" Andrea Nahles als SPD-Fraktionschefin scheint ein Zusammenrücken mit der Linken in der Opposition möglich. Und Seehofer und Merkel? Sie sind mit Ablaufdatum noch im Amt. Früher oder später geht es um ihre Nachfolge, was das Beben in der sichtlich bemühten politischen Stabilität schon andeutete. Seit der Bundestagswahl ist Deutschland ein gespaltenes Land.