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All die verlorenen Stimmen

Von Tamara Ehs

Gastkommentare
Tamara Ehs lebt und erforscht Politik unter prekären Verhältnissen. Sie lehrt in der politischen Bildung (Demokratie Repaircafé) und engagiert sich bei Demokratieinitiativen. 2015 erhielt sie den Wissenschaftspreis des Österreichischen Parlaments.

Wir sollten zweierlei diskutieren: das Wahlrecht für alle dauerhaft in Österreich lebenden Menschen und die 4-Prozent-Hürde im Nationalrat.


Die Angst vor der verlorenen Stimme ging noch vor jeder Wahl um, doch selten betraf sie derart viele Parteien wie heuer. Als Fixstarter für die nächste Legislaturperiode gelten nämlich nur SPÖ, ÖVP und FPÖ. Die Grünen müssen seit der Kandidatur der Liste Pilz wie diese um den (Wieder-)Einzug bangen, ebenso die Neos. Insgesamt treten 16 Parteien zur Wahl an, 10 davon österreichweit.

Nun geht unter Politikwissenschaftern und Journalisten das Gedankenspiel um, was passierte, würde die Angst vor den verlorenen Stimmen überhandnehmen oder würden sich die für die Kleinparteien verfügbaren Wählerstimmen annähernd gleichmäßig aufteilen und außer SPÖ, ÖVP und FPÖ sämtliche Parteien den Einzug verpassen: Dann wären erstmals seit mehr als 30 Jahren nur noch drei Parteien im Nationalrat vertreten, zwar dieselben drei wie vor 1986, aber in anderer Stärke. Und die Regierungskoalition - wie auch immer sie zusammengesetzt wäre - hätte wohl eine Zweidrittelmehrheit, also eine Verfassungsmehrheit, mit der sie die Republik in den kommenden Jahren nachhaltig umgestalten könnte. Die Opposition hätte das Monopol und müsste/dürfte all ihre Minderheitenrechte (wie die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen) alleine gestalten. Die Grünen wären nur noch in den Landtagen (allerdings in sechs Regierungen) vertreten, was bis zur nächsten Wahl zu ihrer Erholung beitragen könnte. Die Neos würde wohl das Schicksal des Liberalen Forums (LiF) ereilen.

Fiele der verpasste Einzug mehrerer Kleinparteien nicht eindeutig, sondern jeweils recht knapp aus, hätte der Nationalrat nur eine mäßige Legitimation. Im äußersten Fall wären mehrere hunderttausend gültige Wählerstimmen nicht repräsentiert. Rechnete man nun noch die Nichtwähler hinzu (bei der Nationalratswahl 2013 immerhin rund ein Viertel) und jene Menschen im Wahlalter, die zwar dauerhaft in Österreich leben, aufgrund einer ausländischen Staatsbürgerschaft aber nicht wahlberechtigt sind (rund 1,1 Millionen), wären die Abgeordneten in einem Mindestmaß legitimiert, das demokratiepolitisch bedenklich ist.

Verloren sind somit nicht nur jene Stimmen, die zwar in der Urne gelandet sind, aber keine Repräsentation fanden - verloren sind auch jene, die sich gar nicht äußern dürfen. So ist etwa am 15. Oktober ein Viertel aller Wiener gar nicht wahlberechtigt. Wir sollten daher aus Gründen der Demokratie zweierlei diskutieren: das Wahlrecht für alle dauerhaft in Österreich lebenden Menschen und die 4-Prozent-Hürde im Nationalrat. Letztere gibt es nämlich erst seit 1992. Böse Zungen sagen, sie sei erst eingeführt worden, als die einstigen Großparteien ihren Einfluss schwinden sahen. Ohne die Hürde wäre etwa 1999 das LiF in den Nationalrat eingezogen, weil es in Wien ein Grundmandat erreicht hätte, wofür es nach der alten Wahlordnung von 1971 nur 2,8 Prozent gebraucht hätte. Die KPÖ focht 2006 die Hürde beim Verfassungsgerichtshof an: Sie widerspräche dem Grundsatz der Verhältniswahl. Die Neos regten im heurigen Frühjahr an, die Hürde auf 3 Prozent zu senken. Wir sollten uns die Frage stellen, wie viele verlorene Stimmen sich eine Demokratie leisten darf.