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Mehr Demokratie wagen

Von Bernhard Löhri und Gerd Thurner

Gastkommentare

Direkte Demokratie beginnt beim Wahlakt. Jede Stimme ist gleich - aber es müssen auch alle gültig sein.


Den Willen der Bevölkerung möglichst unverfälscht, direkt und unmittelbar in die politische Willensbildung einzubringen, ist wohl die Kür von Politik. Ein Mix aus direkter und indirekter Demokratie soll Politik bürgerorientiert machen; die Überprüfung der indirekten Instrumente ist aber geboten.

Die Pannen des Wahljahres 2016 haben viele Unzulänglichkeiten des operativen Wahlablaufes aufgezeigt. Bei der Volkswahl der Gesetzgebung kann bereits der Entscheid zur Teilnahme an der Wahl ein bewusster Akt sein. Die völlige Außer-Diskussion-Stellung der Anzahl der Abgeordneten zur Gesetzgebung - in Österreich 183 - nimmt dem Souverän die Mitwirkung bezüglich quantitativer Ausstattung von Politik. Der gelegentlich aufkommende Diskurs, die Zahl der Mandatare zur reduzieren, verläuft regelmäßig ins Leere - die Politik schafft es nicht, sich zurückzunehmen.

Der Entscheid zu wählen, gültig und wirksam, ist schon ein erster Wählerwille. Die Wahlstimme kann - auch gewollt - ungültig sein, und Stimmen für Kleinparteien unter 4 Prozent führen zu keinem Mandat. Solche Stimmen umzuinterpretieren, ist abzulehnen. Die Wahlbeteiligung kann variieren. Eine reife Demokratie sollte die Menschen für die Politik gewinnen.

Variable Anzahl der Abgeordneten

183 Abgeordnete als Maximalzahl zu sehen, aber nur jenen Prozentsatz zu besetzen, der der Anzahl der abgegebenen gültigen und zu Mandaten führenden Stimmen entspricht, würde dazu führen dass eben bei 75 Prozent auch nur 137 Mandate verteilt würden. Nichtwählen, ungültige Stimmen und Stimmen für Kleinstparteien würden nicht mehr großzügig uminterpretiert - das wäre wohl mehr Demokratie.

Selbstredend müssten auch alle Budgetansätze zur Parteien- und Politikfinanzierung im weitesten Sinne in der Folge im verkürzten Ausmaß zur Auszahlung kommen. Darin ist aber kein Budgetsparinstrument zu sehen, um die Parlamente und die Politik kostengünstiger zu gestalten, vielmehr handelt es sich um eine Feinsteuerung durch den Souverän und eine kapazitätsorientierte Informationsdimension von dessen Stimmabgabe - also ein direktdemokratisches Element im Wahlsystem.

Das Modell stützt auch qualitative Aspekte von Politik, wie Umgangskultur, Außendarstellung und Konfliktverhalten, die im gegenwärtigen Modell in ihrer negativen Ausprägung systemisch gestützt werden. Politik hat primär attraktiv und kompetent zu wirken, um den Souverän zur Willensbildung zu gewinnen.

Negative Erscheinungsformen von Politik nicht belohnen

Das gegenwärtige Modell, Nichtwähler, ungültige Stimmen und Wähler von Kleinstparteien unter 4 Prozent einfach zu ignorieren und im Endeffekt sich den ganzen Kuchen von 183 Mandaten aufzuteilen, ignoriert Botschaften und interpretiert ungefragt um. Nichtwählen kann ein Protestverhalten in einem ersten, freilich sehr zivilisierten Schritt darstellen. Rechtfertigungsargumentationen, etwa dass Nichtwähler eben mit dem System einverstanden seien und man auch die Wähler von Kleinstparteien nach bestem Wissen vertrete, sind die peinliche Rhetorik einer sattsam verachteten Diskussionskultur des begütigenden Selbstlobs.

Ein Nichtbeachten von Nicht- oder Ungültig-Wählern fördert unerwünschtes Verhalten wie Dirty Campaigning. Es bedarf nicht des Abwerbens von Wählern des Mitbewerbers, es reicht schon, sie vom Wählen abzuhalten, und die Belohnung dafür sind billiger werdende Mandate als Folge der geringeren Anzahl an Stimmen, die aber zu 183 Mandaten führen. Gelingt es, möglichst wenig Wahlberechtigte zur gültigen Stimmabgabe zu bewegen, erwirbt man die Mandate mit einem erheblichen Rabatt. Dirty Campaigning, gezielte Wählervertreibung, Ermunterung von Kleinstparteien zur Kandidatur - all das sind Strategien, um Mandate billiger und damit leichter erwerbbar zu machen. Dem aktuellen System fehlt der strukturelle Anreiz, möglichst viele Wahlberechtigte zum Gebrauch ihres Grundrechts zu motivieren und damit der Politik wieder mehr Vertrauen zu schenken.

Mängellisteaufarbeiten

Bei der Zuordnung der zu vergebenden Mandate auf die Bundesländer spielt die Zahl der Bürger eine Rolle. Der unterschiedliche Anteil von nicht wahlberechtigten Kindern in den Regionen spiegelt sich im Gewicht der abgegebenen Stimmen wider. Jene der Kinder zwischen Geburt beziehungsweise juristisch relevantem pränatalen Zustand zum Stichtag - analog zum Zivilrecht - bis zur Erreichung des passiven Wahlrechtes mit 16 Jahren findet keine Berücksichtigung im Wahlvorgang. Es stellt sich daher die Frage, ob man da von einer "Volksvertretung" sprechen kann - "Vertretung der erwachsenen Wähler" wäre richtiger.

Die Bedeutung der Rechte der Kinder in allen Bereichen der Gesellschaft fordert eine Diskussion auch im Wahlrecht. Die Frage von Kinderstimmen bei Erziehungsberechtigten ist zu diskutieren, gilt es doch dem Verfassungsauftrag nach der Wahl einer Volksvertretung zu entsprechen. Und das im Kontext eines gesellschaftlichen Bewusstseins, das Kindern einen sehr zentralen Stellenwert zuordnet, worauf die Gesellschaft stolz sein darf.

Evaluierung der indirekten Demokratie

Österreich als Protobeispiel eines Politsystems mit Überbewertung der exekutierenden Regierung und Verwaltung gegenüber der gesetzgebenden Legislative hat im Endeffekt zu einer definitorischen Pervertierung geführt. Lässt doch die politische Realität vielmehr ein System vermuten, in dem die Regierung der Gesetzgeber ist, der die Gesetze aus seiner Bürokratie stammend gibt. Dem formalen Gesetzgeber bleibt dann nur noch das Schicksal, das Gesetz hinzunehmen und zu beschließen. Wird das besonders schwer, wird den Abgeordneten noch die Vokabel "alternativlos" zugerufen. Spätestens dann wird das Gesetz angenommen.

Mehr direkte Demokratie erfordert eine gegenüber der Regierung gestärkte parlamentarische Demokratie, die im Sinne dieser Ausführungen umfassend vom Souverän zur Vertretung beauftragt wird. Ein so vernetzter Gesetzgeber kann dann mehr direkte Demokratie annehmen, ohne dass es - um einen Begriff aus der Transplantationsmedizin zu gebrauchen - zu Abstoßreaktionen kommt.

Insgesamt gab es seit Bestehen der Zweiten Republik 42 bundesweite direktdemokratische Partizipationsmöglichkeiten wie Volksabstimmungen, -befragungen oder -begehren. Erfolgreich und nachhaltig waren jene, die von Teilen der Bürgergesellschaft mit gewaltigem Aufwand an Partizipation und Ressourceneinsatz auf den Weg gebracht worden waren.

Wahltag - höchster Feiertag der Demokratie

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat vom Wahltag als dem höchsten Feiertag der Demokratie gesprochen. Die Volksvertretung als Dienstleistung am Staatsbürger wird seit kurzem alle fünf Jahre (zumindest theoretisch) durch die Abhaltung von Nationalratswahlen evaluiert. Ein Zeitraum, den die Politik offenbar nicht schafft.

Mehr Demokratie zu wagen und ihren höchsten Feiertag entsprechend zu begehen, bedeutet, möglichst alle Staatsbürger zur aktiven Mitwirkung zu gewinnen, auch dann, wenn die angekreuzte Partei nicht im Nationalrat vertreten sein oder gar die Stimmerteilung bewusst verweigert wird. Wird seitens der Politik eine schlechte Dienstleistung geboten, soll das auch im Komfort quantitativer politischer Gestaltungsressourcen spürbar werden. Nicht genutzte Abgeordnetensessel mit weißen Schonbezügen als Indikator mangelnder politischer Attraktivität sichtbar im Parlament zu markieren, würde nachhaltig vermitteln, dass der Souverän die Dienstleistung "Politik" nicht im Verdacht sieht, sich die Auszeichnung mit einem überzeugenden Qualitätssiegel verdient zu haben.

Dass neue Politik bei genauem Hinschauen uralt sein kann, ist ein bekanntes Phänomen. Eine Gesellschaft, die die Parteien über eine üppige Parteienförderung verstaatlicht hat, kann sicher sein, dass Innovationen bestenfalls zelebriert, aber nur in Ansätzen initiiert werden. Wenn von den 18- bis 34-Jährigen 88 Prozent kein Vertrauen mehr in die Politik haben, dann gilt es dieser pro-aktiv sozialisierten Generation ein Mehr an Gestaltungsmöglichkeiten anzubieten, das die Politik insgesamt attraktiver und effizienter erscheinen lässt. Die Perspektive, auch mit einer ungültigen oder gar nicht abgegebenen Stimme ein Bündel an Impulsen abzugeben, kann ein Tool dafür sein.

Einwände sind bekannt und ernst zu nehmen

Der Gefahr, dass das Parlament zu klein werden könnte, wäre mit einer Übergangsbestimmung zu antworten, für die ersten drei Parlamentswahlen eine Mindestschwelle von 50 Prozent vorzusehen, sodass das Parlament jedenfalls 93 Mandate (die Hälfte von 183, aufgerundet auf die nächsthöhere unrunde Zahl zwecks klarer Mehrheitsfindung) umfassen würde. Was Werbung und Medienkampagnen für Nichtwählen und damit das Eintreten für ein kostengünstiges Parlament anbelangt, so wäre dies schlicht zu verbieten. So wie mit dem Verbotsgesetz absolute Grenzen der Agitationsfreiheit in Staat und Gesellschaft gegeben sind, wären auch hier Grenzen aufzuzeigen.

Das beschriebene Modell einer umfassenden Perzeption des Wählerwillens auch in der beschriebenen quantitativ-kapazitiven Dimension würde jedenfalls dem Anspruch "Mehr Demokratie wagen" (Zitat des deutschen Bundeskanzlers und Sozialdemokraten Willy Brandt aus den 1960er Jahren) neues Leben einhauchen. Brandt meinte damals ergänzend: "Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert." Diese Mitverantwortung bereits mit einer umfassenden, aber authentischen Interpretation der abgegebenen Wählerstimmen auszugestalten, ist ein Anliegen dieses Modells.