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Einsilbige Reaktionen

Von Sieglinde Rosenberger

Gastkommentare
Sieglinde Rosenberger ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Eine Langfassung dieses Kommentars ist als Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erschienen: www.oegfe.at/policybriefs

Der Umgang unserer Gesellschaft mit religiös motivierter Gewalt hat sich seit dem "Charlie Hebdo"-Anschlag gewandelt.


9/11 liegt schon 16 Jahre zurück. Die US-Innen- und Außenpolitik hat sich seither deutlich verändert, sie hat sich "versicherheitlicht". Ähnliches gilt für Europa. Islamistischer Terror hat auch hier Staaten und Städte fest im Griff. Er ist zu einer relevanten politischen Einflussgröße geworden. Freiheiten und Toleranz stehen auf dem Spiel.

Wie reagiert die Politik auf diese die Gesellschaften als Ganzes erschütternden Anschläge? Eine Antwort darauf hat nicht nur verbale, sondern auch faktische Handlungen, kurzfristige und längerfristige Aktivitäten zu berücksichtigen.

In medialen Statements unmittelbar nach Anschlägen wird die Gewalt "aufs Schärfste" verurteilt und der Bevölkerung versichert, alles für die Sicherheit in der Unsicherheit zu tun. Diese Statements beinhalten meist Grundsätzliches darüber, was Europa ausmacht, nämlich Werte wie Toleranz, Freiheit und ein Lebensstil, der traditionelle und religiöse Einschränkungen überwunden hat. Insbesondere die Reaktionen nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" in Paris im Jänner 2015 waren europaweit von Solidaritäts- und Toleranzbekundungen als europäische Grundwerte geprägt. Seither sind aber die Freiheitsappelle weitgehend verschwunden, ist das Vokabular der Trauer und Entrüstung einsilbig geworden - sich nicht einschüchtern lassen, das ist das rhetorische Muster.

Massiv verändert haben sich im Verlauf der steigenden Zahl von Terroranschlägen die politischen Forderungen und Entscheidungen. Je öfter im Namen des Islam in Europa getötet wird, desto stärker nutzen Politiker die Stunde der Angst für sicherheitspolitische, also die Freiheit einschränkende Interventionen. Die Reaktion auf den Terror bringt autoritäre Verhältnisse auf den Weg. Muslime und deren Organisationen werden unter Beobachtung gestellt, lautstark werden separate Regeln und Bestimmungen gefordert. Die Unterscheidung zwischen Muslimen und Islamisten verblasst. Gerade im Wahlkampf wird im Sog der verängstigten Mehrheitsgesellschaft polarisiert, sozial ab- und ausgegrenzt.

Schließlich, nahezu nach jedem islamistischen Anschlag wiederholen muslimische Organisationen und Repräsentanten, dieser hätte nichts mit Religion, nichts mit dem Islam zu tun. Muslimische Communitys starten keine öffentlich sichtbaren Prozesse der systematischen Auseinandersetzung, was der Anteil der Religion, der Anteil von Organisationen und Predigern, von Schriften und deren Interpretationen an der Gewalt sein könnte, um so an der religiösen Wurzel zu arbeiten. Denn die vielzitierte soziale Marginalisierung von Jugendlichen reicht zur Erklärung für Radikalisierung und Gewalt nicht aus - alleine deshalb nicht, weil nicht alle Terroristen ökonomisch marginalisiert sind.

Angesichts der politischen Entwicklungen verkommt das Statement "Wir lassen uns unseren Lebensstil nicht nehmen" zu einer Floskel ohne materielles Fundament. Werte verlangen nach Handlungen - und genau diese laufen den spontanen Statements oft konträr. Freiheit und Toleranz sind aber in einer liberalen Gesellschaft sowohl als verbindender Wert als auch als alltägliche Praxis zu erhalten, denn ohne sie ist eine Gesellschaft nicht mehr liberal.