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Einfach wegschauen

Von Arno Tausch

Gastkommentare

Was die grüne Wahlniederlage mit der EU-Politik zu tun hat.


Grün hat also verloren, und nach dem Wahlsonntag ist Rot/Grün, einst die Hoffnung der Linken, ein Ding der Unmöglichkeit. Warum? In der vorjährigen Sommer-Nummer von "Foreign Affairs" hat der US-Soziologe Francis Fukyama den Vormarsch des Populismus im Westen mit internen Widersprüchen und dem DefactoKollaps der dort seit den 1990ern dominanten Ideologie in Zusammenhang gebracht, die für ihn auf folgenden Prämissen beruht: Globalisierung, einem relativ offenen Migrationsregime und der Integration sexueller, ethnischer und sonstiger Minderheiten.

Fukuyama zufolge sind insbesondere die Widersprüche dieser Ideologie wichtig, die aus der wachsenden Ungleichheit herrühren. Auch die Krise der Grünen in Österreich ist ursächlich mit deren Unfähigkeit verbunden, die Widersprüche der neoliberalen Globalisierung unter der Führung der EU-Kommission wirklich zu benennen. Konstantes Wegschauen also. Da half es auch nicht, ab und zu - wie Ulrike Lunacek es ja tat - ans Globale Sozialforum in Porto Alegre zu erinnern, wenn zu den harten, neoliberalen, "eingemachten" EU-Politikvorstellungen, wie dem Fiskalpakt und der Schuldenbremse, keine wirkliche Alternative öffentlichkeitswirksam diskutiert wurde.

Globalisierungsthema wurde Rechtspopulisten überlassen

In unterschiedlichem Ausmaß haben Österreichs Parteien die drei Eckpunkte in ihre Programmatik einfließen lassen und die Opposition gegen die von der EU-Kommission in Brüssel durchgesetzte Globalisierung weitgehend den Rechtspopulisten überlassen.

Wie stand es bei den Grünen ums "Kleingedruckte" in der Politik der EU? So als gäbe es etwa die EU-Schuldenbremse nicht? Schon vor Jahren verwiesen die Ökonomen Kazimierz Laski, Leon Podkaminer und Stephan Schulmeister zu Recht darauf, dass die derzeitige europäische politische Ökonomie, die um die Schuldenbremse zentriert ist, an einem sehr grundsätzlichen Fehler des Designs leidet. Durch die Details der Berechnungsmethoden der strukturellen Defizite werden die Krise in Südeuropa prolongiert und der Spielraum der Budgetpolitik praktisch überall aufgegeben. Ein Knebelvertrag, den nur wenige durchschauen, und den man kritisieren können dürfen muss, ohne gleich als Rechtspopulist denunziert zu werden.

Bereits vom Anfang der Europäischen Währungsunion an war klar, dass die Bedingungen, die in der Wirtschaftstheorie dafür genannt werden, nicht erfüllt sind. Robert Mundell hat für seine Arbeit darüber ja den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Kurz und bündig, wie das so seine Art war, wies auch der verstorbene österreichische Ökonom Kurt Rotschild bereits vor vielen, vielen Jahren auf diese Konstellation hin.

Schweigen der Grünen statt Kritik an der EU-Ökonomie

Laski und Podkaminer hoben völlig zu Recht hervor, dass die "Erbsünde" der Eurozone darin besteht, dass es noch immer wichtige Differenzen in den Inflationsraten gibt, während der Zinssatz in der ganzen Zone gleich ist, was zu einer Deflation in den Ländern mit niedriger Inflation und zu einem kreditfinanzierten, oft auch spekulativen Wachstum in den Staaten mit hoher Inflation führt.

Wohl aus Angst davor, nicht mit der Kritik von rechts an der derzeit verfassten EU mit den Populisten in einen Topf geworfen zu werden, waren die Grünen in Österreich im Wahlkampf argumentativ auf Gedeih und Verderb der dominanten neoliberalen Politik der EU-Kommission ausgeliefert. Nur nicht zu laut sagen, was von all dieser verkehrten politischen Ökonomie zu denken ist, die, so Laski, Europa ein langes, langes Siechtum bescheren wird.

Immer mehr Menschen spüren, was es heißt, unter der Schuldenbremse zu leben: 1000-Euro-Jobs, Verdünnung des öffentlichen Dienstes, kein Geld für öffentliche Investitionen, jahrelanges Stagnieren der Realeinkommen, wachsende Ungleichheit, kurzfristige Arbeitsverträge, die eine Haushaltsgründung und den Kinderwunsch junger Menschen verunmöglichen - und die erdrückende Dominanz Deutschlands unter "Mutti Sparefroh" Angela Merkel in Europa, nach dem Brexit noch mehr als je zuvor.

Statt einen Raum der Konvergenz der Lebensbedingungen zu schaffen, hat das real existierende Europa die Kaufkraft in Griechenland, Zypern, Finnland, Italien, und den Niederlanden laut jüngsten verfügbaren Eurostat-Daten von 2008 bis 2015 um 10 Prozent oder mehr im Vergleich zum europäischen Durchschnitt herabsinken lassen. Die Armutsgefährdung hat seit 2010 in 21 der 28 EU-Staaten zugenommen.

Anton Pelinka meinte einmal, Kritiker der real existierenden EU seien entweder Rechts- oder Linksextremisten. Dieser Satz bringt aber das gesamte Elend des systematischen Wegschauens in der EU-Politik auf den Punkt: nicht hinschauen bei sinkenden oder stagnierenden Löhnen, unbestreitbaren Demokratiedefiziten und fraglos existierenden weiteren "policy failures" in der EU, von der Agrarpolitik über die Struktur- und Konvergenzpolitik bis zur vom Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung und vom Europäischen Rechnungshof bestens dokumentierten Misswirtschaft. Sollen die Sozialwissenschaft und die links der Mitte angesiedelten Parteien allen Ernstes den Menschen in den 21 der 28 EU-Staaten mit gestiegener Armutsgefährdung sagen, sie seien Rechts- oder Linksextremisten?

Unglaubwürdiger Tango bei Migration und Integration

Ein weiteres Thema war ebenso durch konstantes grünes Hinwegsehen gekennzeichnet - die Migration und vor allem die damit verbundenen Probleme der Integration. Mit eines der eklatantesten Probleme des internationalen Migrationsgeschehens ist wohl die Tatsache, dass in vielen Herkunftsstaaten der Migranten Blockaden gerade auch gegen Denkmuster herrschen, die den Grünen in Österreich ja zu Recht so wichtig sind: Ehe für alle unabhängig von der sexuellen Orientierung. Ein Wert, der hier in Österreich von einer wachsenden Anzahl von Menschen gerade auch aus den christlichen Kirchen in einer Ethik von Liebe und Verantwortung voll geteilt wird.

Hingegen lehnen mehr als zwei Drittel der Menschen in 46 von 97 untersuchten Ländern der Welt mit kompletten Daten, darunter in den meisten mehrheitlich muslimischen, die Homosexualität unter allen Umständen ab. Integration ist eine Herkules-Aufgabe, und schon der US-Soziologe Ronald Inglehart bemerkte, dass nicht der Wunsch nach Demokratie die Welten heute trennt, sondern die Einstellungen zu Gender und Familie. Der unglaubwürdige Tango der Linken mit einer naiven Willkommenskultur, die bei all dem wegschaute, ist seit dem 15. Oktober 2017 in Österreich wohl so gut wie ausgetanzt. Übrig bleibt ein Scherbenhaufen.

Über Migration zu diskutieren, impliziert auch, die wirklich harten Fragen der globalen Wertedifferenzen - etwa bei der Toleranz gegenüber Homosexuellen - nicht mehr auszuklammern. Toleranz wird immer notwendiger, je multikultureller wir werden. Will die Demokratie effektiv sein, darf die Toleranz nicht fehlen.

Peter Pilz hatte nicht Unrecht, wenn er den am Wahlsonntag abgestraften Lunacek-Grünen vorwarf, bei vielen solchen Grundproblemen der Integration gerne wegzuschauen. Die Menschen in Österreich wussten das aber und spürten das auch. Die grüne Marginalisierung bei der Nationalratswahl war programmiert.

Arno Tausch ist Politikwissenschafter und Ökonom an der Universität Innsbruck und der Corvinus University Budapest. Er war von 1992 bis 2016 österreichischer Beamter in den Bereichen EU und Internationales und verfasste zahlreiche Bücher und Zeitschriftenartikel bei führenden internationalen Verlagen und globalen Think-Tanks.