Zum Hauptinhalt springen

Kein Teil der Normalität mehr

Von Christoph Koss

Gastkommentare

Gastkommentar: Die Gewaltdelikte sind in Österreich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stark zurückgegangen - das hat mehrere Gründe.


Die gerichtliche Kriminalstatistik erfasst alle strafbaren Handlungen, somit auch die Delikte gegen Leib und Leben. Die Zahlen zeigen, dass die Verurteilungen wegen Gewalt stark zurückgehen - auch, wenn oft das Gegenteil behauptet wird. Im Jahr 2006 gab es 10.697 Verurteilungen wegen eines Delikts gegen Leib und Leben. 2016 waren es 5835 Verurteilungen. Das sind im Vergleich zu 2006 um 45 Prozent weniger. Rückläufig sind sowohl die schwere Körperverletzung als auch die einfache Körperverletzung mit jeweils minus 28 Prozent. Bei den Jugendlichen beträgt der Rückgang bei der schweren Körperverletzung minus 41 Prozent, bei der einfachen Körperverletzung minus 39 Prozent.

Noch drastischer sind die Rückgänge seit der Einführung des Strafgesetzbuches Mitte der 1970er Jahre. Im Jahr 1976 betrugen die 40.059 Verurteilungen wegen Delikten gegen Leib und Leben fast das Siebenfache gegenüber 2016. Bei einfacher Körperverletzung waren es 16.648 Verurteilungen im Jahr 1976 gegenüber 3288 im Jahr 2016. Die Bevölkerung ist darüber hinaus sowohl gegenüber dem Jahr 2006 gewachsen (plus 420.000 Personen) als natürlich auch gegenüber 1976 (plus 1,2 Millionen).

Es gibt also heute weniger Gewalt bei steigender Aufklärung durch die Polizei (nicht zuletzt durch die Zunahme an technischen Überwachungsmöglichkeiten). Die gute Arbeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte sowie die Präventionsmaßnahmen wirken. Ein Grund für den Rückgang der Verurteilungen war die Einführung der Diversion im Jahr 2000 (Tatausgleich, gemeinnützige Leistungen statt Verurteilung).

Tatausgleich als Erfolgsmodell

Vor allem der Tatausgleich hat seinen Teil zur nachhaltigen Sicherung des Rechtsfriedens beigetragen. Seit seinem Start im Jugendstrafrecht im Jahr 1985 und der gesetzlichen Verankerung bei Erwachsenen im Jahr 2000 wurden mittlerweile 275.000 Konfliktregelungen mit rund 450.000 Menschen durchgeführt. Die Zufriedenheit der Opfer ist mit 87 Prozent sehr hoch. Drei Viertel der Opfer würden einen Tatausgleich bei einem ähnlichen Ereignis auch ein zweites Mal einem Strafverfahren vorziehen, 15 Prozent würden dies überlegen und nur 10 Prozent ablehnen. Gleichzeitig liegt die Rückfallrate nach einem Tatausgleich aufgrund einer Körperverletzung bei 11 Prozent, während sie nach einer gerichtlichen Verurteilung mit 36 Prozent mehr als dreimal so hoch ist. Der Erfolg des Tatausgleichs hat auch dazu geführt, dass er zum Prototyp für die Entwicklung der Mediation in Österreich ab Mitte der 1990er Jahre wurde. Mediation gibt es heute in vielen anderen Bereichen, etwa für Familie, Schule, Umwelt, Wirtschaft.

Der Tatausgleich ist nur ein Beispiel, wie sich der massive Rückgang der Gewaltdelikte erklären lässt. Die Hauptursache liegt schlicht in der Sensibilisierung der Bevölkerung gegenüber der Anwendung von Gewalt. Diese Sensibilisierung wurde durch zahlreiche Präventionsmaßnahmen befördert. Heute werden Konflikte und Aggression bereits im Kindergarten altersadäquat thematisiert. In den Schulen gibt es Schulsozialarbeit oder Konfliktlotsen. Die Justiz hat ihren Beitrag durch den Ausbau des Tatausgleichs, der Bewährungshilfe, der gemeinnützigen Leistungen, des elektronisch überwachten Hausarrests, der Antigewalttrainings, der Sozialnetzkonferenzen und der Prozessbegleitung für Opfer geleistet. Nach dem Aufbau der Kinderschutzeinrichtungen und Frauenhäuser waren das Gewaltschutzgesetz und die Einrichtung der Gewaltschutzzentren ein großer und bedeutender Meilenstein.

Kritischere Haltung als früher

Dadurch herrscht heute in der Bevölkerung im Zusammenleben eine kritische Haltung gegenüber Gewalt, wie sie zum Beispiel in den 1960ern noch nicht gegeben war. Ein langjähriger ehemaliger Jugendrichter meinte dazu einmal trocken, dass "Gewalt früher Teil der Normalität war". Von Schlägen in der Familie über Schlägereien bei Dorffesten oder Wirtshausraufereien bis hin zu institutioneller Gewalt. Wie schrecklich Letztere sein konnte, zeigt die Aufarbeitung der Heimunterbringungen in der Nachkriegszeit. Auch die Justiz betrieb nach dem Krieg zwei Erziehungsanstalten, in der nicht nur Jugendliche, sondern auch strafunmündige Kinder untergebracht waren.

Die damaligen unwürdigen und kriminalitätsfördernden Zustände waren der Auslöser für die Gründung des Vereins Neustart und der Bewährungshilfe im Jahr 1957. Heute würde man das als zivilgesellschaftliches Engagement von Bürgern bezeichnen. Dahinter stand auch ein für die 1950er Jahre völlig neues und bahnbrechendes pädagogisches Konzept mit der Überzeugung, dass sich Jugendliche besser durch positive Vorbilder und Unterstützung in Freiheit entwickeln als in einer geschlossenen Erziehungsanstalt. Das war die Geburtsstunde der Bewährungshilfe in Österreich. Die Justiz hat in der Folge reagiert und als eine der ersten Institutionen ihre Heime geschlossen.

Erst viele Jahre später fand nicht nur in Österreich, sondern in zahlreichen anderen Ländern Europas die Aufarbeitung der Heimunterbringung in der Nachkriegszeit statt. Ein vom Deutschen Bundestag eingesetzter Ausschuss kam zu dem Befund, dass die Heimunterbringung in Deutschland zu einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Für Österreich gilt Ähnliches.

Prävention wirkt

Die vorhin genannten Beispiele veranschaulichen, dass weder Heimunterbringung noch höhere Strafrahmen nachhaltige Veränderungen und mehr Sicherheit gebracht haben. Vielmehr waren es neue sozial konstruktive Interventionen wie der Tatausgleich, die zu Beginn meistens als zu weich kritisiert wurden. Sie haben sich aber alle als wirksamer erwiesen als höhere Strafen. Entscheidend sind die positiven Veränderungen im Leben der Menschen, die Rückfallvermeidung und die Verhinderung künftiger Opfer - und nicht, ob etwas als hart oder weich angesehen wird.

Vieles von dem, was in der Nachkriegszeit im Alltag passierte, wurde nicht angezeigt. Trotzdem gab es in den 1960ern oder 1970ern viel mehr Verurteilungen als heute. Aus dieser Perspektive leben wir in Bezug auf Gewaltkriminalität in einer vergleichsweise sicheren Zeit. Das ist ein Fortschritt und ein Erfolg, der uns Ansporn sein sollte, diesen Weg weiterzugehen. Höhere Strafrahmen haben zu diesem Rückgang keinen Beitrag geleistet; schon deshalb nicht, weil die Strafsanktionen bei Gewaltdelikten seit 1975 im Wesentlichen unverändert geblieben sind und erst 2016 durch die Strafgesetzreform teils massiv erhöht wurden. Vielmehr waren es die zahlreichen Präventionsmaßnahmen, die eine Haltungsänderung in der Gesellschaft in Bezug auf die Anwendung von Gewalt bewirkt haben.

Christoph Koss ist Geschäftsführer des Vereins Neustart. Die gemeinnützige Non-Profit-Organisation betreute im Jahr 2016 mehr als 40.400 Menschen aus dem Bereich der Strafjustiz. Von 1542 Mitarbeitern arbeiten österreichweit 955 ehrenamtlich in der Bewährungshilfe.