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Revolution und Konstitution

Von Manfried Welan

Gastkommentare
Manfried Welan ist emeritierter Professor für Staats- und Politikwissenschaft.

Der Gedanke, dass das Volk die Recht schaffende Autorität ist, ist an die Spitze der österreichischen Verfassung gestellt.


"Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." So lautet Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG). Diese zentrale Bestimmung der österreichischen Verfassung hat eine besondere Geschichte.

1848 beschloss das erste volksgewählte Parlament in Paragraf 1 des publizierten Entwurfs der Grundrechte des österreichischen Volkes: "Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus und werden auf die in der Konstitution festgesetzte Weise ausgeübt." 70 Jahre musste diese Formel warten, um zu ihrem Recht zu kommen und Staat zu werden. Nach 70 Jahren wurde 1918 wieder revolutionär eine Formel gefunden, die das Volk als Ursprung von Staat und Recht einsetzt. Am 29. August 1920 wurde Artikel 1 in der "Wiener Zeitung" als vorläufiger Text veröffentlicht: "Österreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt und in seinem Namen ausgeübt." Über Antrag von Hans Kelsen wurde am 22. September 1918 im Unterausschuss des Verfassungsausschusses die heute geltende Fassung des Artikels 1 B-VG beschlossen.

Dieser Artikel 1 ist in seiner Fassung einmalig. Es gibt keine andere Verfassung auf der Welt mit diesem Text. Artikel 1 ist schön. Leider wird er aber oft falsch zitiert. Es heißt nicht: "Alles Recht geht vom Volk aus." Oder "Das Recht geht vom Volk aus." Und auch nicht: "Alle Macht geht vom Volk aus." Oder: "Die Macht geht vom Volk aus", sondern schlicht und einfach: "Ihr Recht geht vom Volk aus."

Der Gedanke, dass das Volk die Recht schaffende Autorität ist, ist also an die Spitze der Verfassung gestellt. Der vorausgehende erste Satz bedeutet die Selbstdarstellung des österreichischen Staates als Republik, als "res publica", als öffentliches Anliegen, als Sache des Volkes.

Es ist bemerkenswert, dass in den Protokollen über die Entstehung der österreichischen Bundesverfassung nichts über die Revolution des Jahres 1848 enthalten ist. Aber vielleicht ist es mir auch einfach entgangen. Die Revolution 1848 ist nicht als Tradition in die demokratische Republik Österreich eingegangen. Es gibt keinen Revolutionspatriotismus, obwohl sich die Revolution 1848 in unserer Verfassung durchgesetzt hat. Da es keinen Revolutionspatriotismus gibt, gibt es auch keinen Verfassungspatriotismus.

Das B-VG aus dem Jahr 1920 ist immerhin unter den Verfassungen Europas eines der ältesten. Es brachte in mancher Weise die Revolution von 1848 zu einem normativen Abschluss. Aus der politischen Verlassenschaft der Revolution 1848 hat das B-VG verpflichtendes Freiheitserbgut gemacht. Und wenn wir zum Radetzkymarsch klatschen, sollten wir wissen, dass das kein Revolutions- oder Konstitutionsmarsch ist, sondern ein Marsch zu Ehren des kaiserlichen Feldmarschalls Josef Wenzel Radetzky von Radetz, der als Sieger von Custozza die Revolution in Italien niedergeschlagen hatte. Wir haben eben keinen Revolutionskult, sondern einen Radetzkykult. Wie viele lernte ich den Radetzkymarsch früher als den Artikel 1 des B-VG, der uns während des Präsidentschaftswahlkampfes in Ämtern und Schulen als Bild versprochen worden ist.