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Demokratie auf dem Prüfstand

Von Gerhard Winter

Gastkommentare
Gerhard Winter (Jahrgang 1937) war AHS-Lehrer.
© privat

Das Parlament sollte sich auf seine zentrale Aufgabe besinnen: Bürgerinteressen zu vertreten.


Täglich demonstrieren abertausende Menschen in vielen Ländern gegen die Repressionen ihrer Herrscher und für ein Mindestmaß an demokratischen Rechten. Statt auf ihre Forderungen einzugehen, antwortet die Macht mit scharfer Munition, Gefängnis und Folter. Daran lässt sich ermessen, wie privilegiert wir Bürger Österreichs und der EU sind. Demokratie ist sogar in unseren Verfassungen verankert. Allerdings: Verfassung und ihre Umsetzung, das ist zweierlei.

Wo also stehen wir bei genauerem Hinsehen? Zweifellos besser als Diktaturen. Die lassen sich nicht abwählen. Wir dürfen demonstrieren, zwar meist erfolglos, aber ohne Gefängnis und Folter befürchten zu müssen. So gesehen geht es uns gut. Aber um von einer ausgereiften Demokratie zu sprechen, sind die Möglichkeiten einer Einflussnahme durch den Bürger, den Souverän, auf die Regierungsentscheidungen zu gering.

Vor allem aber brauchen wir eine Regierung, die rasch und entschlossen tiefgreifende Veränderungen in Angriff nimmt. Klimawandel und fortschreitende Umweltzerstörung, ein Präkariat, das sich selbst in reichen Demokratien ausbreitet, sowie die Covid-Pandemie verbreiten Angst und Ungeduld in der Bevölkerung und lassen da und dort den Glauben wachsen, eine starke Führungspersönlichkeit wäre den Anforderungen besser gewachsen als die Demokratie.

Die Gefahr, dass die Demokratie sich selbst auf demokratischem Wege abschafft und wir uns in einer Situation wiederfinden wie 1938 nach Adolf Hitlers Machtergreifung ist durchaus real. Und das, obwohl wir hinreichend positive Erfahrungen mit unterschiedlichsten Formen von Bürgerbeteiligung etwa Bürgerforen haben und mit hervorragenden Verfahren, in strittigen Fragen tragfähige Lösungen zu finden, zum Beispiel Systemisches Konsensieren, das im Wesentlichen aus drei Schritten besteht:

Erstens Lösungsvorschlägen zu einem drängenden Problem sammeln.

Zweitens durch Angabe des persönlichen Widerstandes bewerten, vorzugsweise auf einer Skala von 0 (kein Widerstand) bis 10 (totale Ablehnung).

Drittens Ermittlung der Akzeptanz durch Addieren der Widerstandswerte - wo der Gesamtwiderstand am geringsten ist, ist die Akzeptanz am höchsten.

Diese drei Schritte werden bei Bedarf so lange wiederholt, bis eine Lösung gefunden ist die, von allen akzeptiert wird.

Der schlechte Rufdes Nationalrats

Werfen wir einen Blick auf die Arbeit in unserer parlamentarischen Demokratie. Bei allem persönlichen Einsatz und hervorragenden Leistungen der Abgeordneten leidet der Nationalrat in der öffentlichen Wahrnehmung unter einem denkbar schlechten Ruf: Zwei Fraktionen liegen sich in den Haaren. Die Regierungsfraktion - entmündigt, weil sie dazu missbraucht wird, die Gesetzesvorhaben der Regierung abzunicken; die Opposition - entmachtet, da ihre Kritik, mag sie noch so berechtigt sein, ohne Wirkung bleibt.

Dieser schlechte Ruf des wichtigsten Instruments der repräsentativen Demokratie mag mehrere Gründe haben, etwa die mediale Berichterstattung oder eine übergriffige Streitkultur. Der Hauptgrund liegt wohl im Mehrheitsprinzip. Wenn eine Stimmenmehrheit über die Zuteilung der Macht entscheidet, dann ist automatisch Schluss mit Kooperation, es gibt nur noch den Kampf, das Gegeneinander, die Polarisierung und das nicht zimperlich. Es ist schlicht ein System, das automatisch den Dissens hervorhebt, wenn nicht gar produziert, es fördert das Gegeneinander statt der Einigung.

Profilierte Nationalratsabgeordente sind eher Mauer- als Brückenbauer und der wichtigsten demokratischen Tugend, dem Kompromiss nicht gerade zugetan. Dazu kommt, dass diese Schwäche des Parlaments der Regierung nicht unwillkommen ist. Welche Regierung wünscht sich schon ein starkes Parlament? Und das ist nicht nur bei uns in Österreich so. Es ist der Entwicklungsstand der repräsentativen Demokratie schlechthin.

So gesehen muss das folgende Szenario wohl eher Wunschdenken bleiben: Man stelle sich vor, das Parlament besänne sich seiner zentralen Aufgabe, die Interessen der Bürger, des Souveräns, zu vertreten, so gut das eben möglich ist. Das heißt, die Nationalratsabgeordneten würden beschließen, in dringend anstehenden Fragen, so unterschiedlich ihre Positionen auch sein mögen, an einer gemeinsamen Lösung zu arbeiten und, wenn sie zu einem Ergebnis gelangten, dieses der Regierung als Empfehlung vorzulegen. Und die Regierung wäre gut beraten, dem Vorschlag durch einen passenden Gesetzesentwurf zu entsprechen.

Das wäre ein Meilenstein in der Entwicklung der Demokratie und eine längst fällige Aufwertung des Parlaments. Es genügt schon, sich vom eingeübten Gegeneinander zu befreien und im Kleinen das zu wagen, was im Großen zu leisten sein wird: nämlich Kooperation über alle politischen, ideologischen und religiösen Grenzen hinweg. Ein mögliches Werkzeug dazu ist mit dem bereits erwähnten Systemischen Konsensieren gegeben.