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Migration aus Afrika - wir müssen umdenken

Von Max Haller und Hans Stoisser

Gastkommentare

Statt abschätzig von "Wirtschaftsflüchtlingen" zu sprechen, könnten wir Migration auch als etwas Positives begreifen, weil sie ein Zeichen für den Rückgang der Armut in Afrika ist.


Max Haller, geboren 1947 in Sterzing, ist emeritierter Professor für Soziologie der Universität Graz und Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Er lehrte von 2009 bis 2011 an der SAUT-Universität in Tansania und gab zuletzt ein Buch über "Higher Education in Africa" heraus.
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Der Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015 hat nicht nur Wahlen entschieden, sondern auch eine weitreichende politische Entscheidung wie den Brexit mitverursacht. Während dieser Zustrom in erster Linie durch die Kriege im Nahen Osten verursacht war, ist die Migration aus Afrika anders gelagert.

Studien in mehreren afrikanischen Ländern, durchgeführt von unterschiedlichen Institutionen, ergaben, dass ein Viertel bis ein Drittel der Befragten den Wunsch äußern, ins Ausland abzuwandern. So ist es nicht überraschend, dass nicht wenige Politiker vor einer drohenden Massenimmigration von Afrikanern nach Europa warnen. Aufrüttelnde Schlagzeilen und politische Panikmache sind die Folge. Doch es gilt, Fakten auseinanderzuhalten. Zunächst ist zwischen Menschen auf der Flucht und Migranten zu unterscheiden. Erstere machen sich auf den Weg, weil ihr Leben bedroht wird, Zweitere aus Hoffnung.

2016 zählte das UNHCR in Afrika etwa sechs Millionen grenzüberschreitende Menschen auf der Flucht. Diese kamen im Wesentlichen von sieben Krisenherden: Süd-Sudan, Somalia, Sudan, Kongo, Zentralafrikanische Republik, Eritrea und Burundi. Diese Wanderbewegungen betrafen Europa nur am Rande. Mit Ausnahme einiger weniger tausend Menschen - vor allem aus Somalia und Eritrea - wurden die Flüchtlinge fast ausschließlich in den afrikanischen Nachbarländern aufgenommen. In Österreich suchten 2016 etwa 2000 Somalier um Asyl an. Bei etwa der Hälfte der in diesem Jahr abgeschlossenen Verfahren wurde dieses gewährt.

Ganz anders ist die Situation bei jenen, die aus anderen afrikanischen Ländern zu uns kommen. Die größte Gruppe sind die Nigerianer mit 1400 Asylanträgen im Jahr 2016 in Österreich. Nur bei einem Prozent der Anträge wurde tatsächlich Asyl gewährt. Auch wenn sich Nigeria derzeit in einer Rezession befindet, kommen Nigerianer, genauso wie Senegalesen, Ghanaer, Ugander oder Äthiopier, grundsätzlich aus einem Land mit florierender Aufbauwirtschaft. Und in den allermeisten Fällen drängen die Menschen nach Europa, weil sie sich wirtschaftlich verbessern wollen.

Hans Stoisser, Jahrgang 1959, baute mehr als 30 Jahre lang Infrastruktur in afrikanischen Ländern auf. In seinem 2015 erschienen Buch "Der schwarze Tiger - Was wir von Afrika lernen können" und auf seinem Blog www.hansstoisser.com erzählt der Ökonom vom "anderen Afrika", das nur selten thematisiert wird.
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Wirtschaftsmigration wegen zurückgehender Armut

Im Allgemeinen liegen der Wirtschaftsmigration zwei Faktoren zugrunde: ein starkes Entwicklungsgefälle zwischen zwei Regionen und eine deutliche Differenz im Bevölkerungswachstum. Betrachtet man diese beiden Faktoren, so wird die Migration aus Afrika in Zukunft für Europa von allergrößter Bedeutung sein. Afrika ist der bevölkerungsmäßig am stärksten wachsende Kontinent der Erde; von derzeit rund 1,2 Milliarden Menschen wird sich die Einwohnerzahl des Kontinents bis 2050 auf mehr als 2 Milliarden verdoppeln, während Europas Bevölkerung kaum wächst. Zugleich ist das Einkommensgefälle zwischen Afrika und Europa enorm.

Aber Vorsicht: Wenn wir vergleichsweise reichen Europäer (Durchschnittseinkommen 40.000 US-Dollar pro Jahr) auf die armen Afrikaner (4000 US-Dollar) blicken, sehen wir das Einkommensgefälle, aber nicht die Veränderungen. Wir glauben, die Menschen kämen zu uns, weil sie immer ärmer würden. Dabei drängen sie zum Teil nach Europa, weil sie immer weniger arm werden.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde auch in Afrika die Armut stark zurückgedrängt. Viele Afrikaner haben heute zum ersten Mal die Möglichkeit, sich gesellschaftlich zu verändern und müssen nicht wie ihre Vorfahren in jahrhundertealter Tradition als Subsistenzbauern ihr Leben fristen. Die Wirtschaftsleistung Sub-Sahara-Afrikas hat sich zwischen 2000 und 2015 verdreifacht, das Pro-Kopf-Einkommen hat sich verdoppelt. Dahinter stehen die fortschreitende internationale Arbeitsteilung, die digitale Transformation, der Zugang zur globalen Wissensgesellschaft und die Investitionen tausender chinesischer Unternehmen, die jetzt endlich eine Industrialisierung vieler afrikanischer Länder auslösen werden. Auch die afrikanische Diaspora leistet mit ihren Rücküberweisungen und dem wichtigen Austausch von Know-how einen ganz wesentlichen Beitrag.

Europa braucht Zuwanderung, wie Afrika Diaspora braucht

Studien zeigen: Wenn Menschen aus der Armut herauskommen, wenn das Durchschnittseinkommen einer Gesellschaft steigt, nimmt auch die Emigration zu. Wir sollten uns überlegen, ob wir diese Menschen weiterhin geringschätzig mit dem Unwort "Wirtschaftflüchtlinge" bezeichnen wollen. Oder ob wir Migration nicht auch als etwas Positives begreifen, weil sie ein Zeichen für den Rückgang der Armut in Afrika ist und, genauso wie der internationale Warenhandel, entscheidend zur Wirtschaftsentwicklung in den Herkunfts- wie auch den Zielländern beiträgt. Und vor allem auch, weil Europa seine Zuwanderung braucht, genauso wie Afrika seine Diaspora.

Was kann Europa tun, um die Migration aus Afrika zu einer Win-Win-Situation für beide Kontinente zu gestalten? Am häufigsten genannt wird die "Bekämpfung der Wanderungsursachen", also der Armut in Afrika, durch Verstärkung der Entwicklungshilfe. Dies scheint aber eine Illusion zu sein. Die Entwicklungshilfe ist nicht der entscheidende Treiber der Wirtschaftsentwicklung. Und überhaupt können die "Fluchtursachen" der Wirtschaftsmigration nicht bekämpft werden. Denn in der derzeitigen Entwicklungsphase ist es eben die wirtschaftliche Entwicklung selbst, die zwar Arbeitsplätze vor Ort schafft, gleichzeitig aber auch die Migration treibt.

Mehr humanitäre Hilfe und offensive Immigrationspolitik

Um einen Beitrag zu einer modernen Versorgung der Flüchtlinge in den afrikanischen Krisenherden anzubieten, wird Europa seine humanitäre Hilfe verdoppeln müssen. Statt der Fehlpolitik des UNHCR, die Flüchtlinge in Lagern anzuhalten, sollten Lösungen gesucht werden, die den Menschen die Möglichkeit geben, sich in normalen Städten, allenfalls stadtartigen Strukturen mit einem hohen Grad an Selbstorganisation, möglichst nahe den Herkunftsländern niederzulassen und Beschäftigungen auszuüben.

In Europa aber brauchen wir eine offensive Immigrations- und Vernetzungspolitik. Sie muss das Asylsystem endlich entlasten und diejenigen auf legalem Weg hierher bringen, die eine echte Chance haben, bei uns einen Beitrag zu leisten. Die neue Regierung hätte hier eine realistische Chance, innovative Lösungen zu entwickeln, der Öffentlichkeit den komplexen Sachverhalt zu erklären und ein Umdenken einzuleiten.

Veranstaltungshinweis:
"Migration in und aus Afrika - droht Europa eine Masseneinwanderung?"
Podiumsdiskussion der Wiener Gesellschaft für Soziologie und des Roten Kreuzes
Dienstag, 12. Dezember, 18 Uhr
1040 Wien, Wiedner Hauptstraße 32
Moderation: WZ-Redakteur Klaus Huhold
Mehr Info: www.wienersoziologie.at