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Viel Pflicht, wenig Kür

Von Kurt Bayer

Gastkommentare

Tatsächlich eine "Neue ÖVP" - das wirtschaftspolitische Programm der neuen Bundesregierung. | Viele Vorschläge sind durchaus sinnvoll, dennoch gibt es eine Reihe problematischer Ausführungen beziehungsweise Versäumnisse.


Zwei Dinge fallen besonders auf im neuen Regierungsprogramm 2017 bis 2022. Der Titel "Zusammen. Gemeinsam für Österreich" lässt Furcht aufkommen über die vielfachen Absichten der Regierungspartner, die in hunderten gelisteten Einzelmaßnahmen - von hehren und wahrscheinlich tatsächlich von den meisten Österreichern mitgetragenen Absichtserklärungen bis hin zu ganz konkreten, auch terminisierten Maßnahmen reichen. Was auch auffällt, ist, dass es tatsächlich eine "Neue Volkspartei" zu geben scheint, die weder die vergangenen 17 Jahre mit in der Regierung saß, noch wie die FPÖ seit 70 Jahren im Parlament sitzt: Hunderte bestehende Maßnahmen, Politiken und Institutionen müssen erst evaluiert werden, so als ob bei vielen deren Mängel nicht schon längst bekannt, untersucht, beziffert - und oft auch von der FPÖ in den vergangenen Jahren attackiert worden wären.

Unvollständiges Konzept

Das Verständnis von Wirtschaftspolitik im neuen Regierungsprogramm ist massiv eingeschränkt. Die gesamtstaatliche volkswirtschaftliche Steuerung kommt nur in den Forderungen, die Schuldenbremse in die Verfassung einzuführen (Seite 21), und nach einer Senkung der Steuer- und Abgabenquote in Richtung 40 Prozent des BIP vor. Letzteres ist eines der "Leuchtturmprojekte" der neuen Regierung, ebenso die Deregulierung und das Stoppen der "Zuwanderung ins Sozialsystem".

Alles, was sonst wirtschaftspolitisch relevant ist, findet sich in großer Ausführlichkeit, wenn auch oft wie Kraut und Rüben zusammengewürfelt, in angebotsseitigen, mikroökonomischen Maßnahmen zur Verbesserung des "Standortes". Dass diese primär die "Unternehmerseite" begünstigen sollen, ist aufgrund der Regierungsparteien nicht ganz überraschend. Die "Soziale Heimatpartei" scheint sich nur bei der Festlegung der Mindestpension für jene, die 40 Jahre lang gearbeitet haben, auf 1200 Euro (für Ehepaare 1500 Euro) durchgesetzt zu haben - und natürlich bei den das Programm durchziehenden, "negativen" Zielen der Diskriminierung von Zugezogenen, seien es Asylanten, subsidiär Schutzberechtigte oder "illegale" Zuwanderer. Möglicherweise geht der "Familienbonus", ausgestaltet als Steuerabzugsbetrag, auch auf die FPÖ zurück: Auch hier ist interessant, dass dieser ausdrücklich "nicht negativsteuerfähig" ist, also jenen, die keine Einkommensteuer zahlen, nicht zugutekommen wird. Das betrifft natürlich mehr Österreicher als Ausländer, aber jedenfalls auch diese.

Positive Vorschläge

Viele der Vorschläge sind durchaus sinnvoll, viele davon wurden auch schon seit Jahr und Tag von diversen Gruppierungen gemacht: Der Grundsatz der Zusammenführung von Aufgaben-, Ausgaben- und Finanzierungsverantwortung ist jahrzehntelanges Ziel jeder Diskussion über den öffentlichen Sektor. Ein weiterer Punkt ist die Straffung und gemeinsame Steuerung der Forschungsförderungsinstitutionen und die Erhöhung der Forschungs- und Entwicklungsquote auf 3,76 Prozent. Die Einrichtungen der Entwicklungszusammenarbeit sollen gemeinsam gesteuert werden, die Quote der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) soll auf 0,7 Prozent des BIP steigen (Seite 25). Die Abstimmung zwischen Austria Development Agency und Außenministerium soll verbessert werden - warum fehlen da die anderen EZA-Einrichtungen, wie die Österreichische Entwicklungsbank?

Es geht auch um die Abschaffung von Doppelgeleisigkeiten und Überlappungen zwischen Gebietskörperschaften, mehr gemeinsame Strategien für alle Bereiche der Öffentlichen Hand und eine gemeinsame Außenhandelsstrategie zwischen Außen- und Wirtschaftsministerium sowie Wirtschaftskammer - wo bleibt hier die Einbindung der EZA-Institutionen? Außerdem sollen eine "Bundesnetzagentur" statt einzelner Regulatoren je Verkehrs- und Energieträger geschaffen und der vollständige Verzicht auf Kohlekraftwerke und Atomstrom erreicht werden. Die Umsatzsteuer für Gastronomiebetriebe soll wieder auf 10 Prozent sinken. Auch die mehrfach geforderte Vereinfachung der Lohnverrechnung und der Einkommensteuererklärungen kommen ebenso vor wie einiges anderes mehr. Die Etablierung von "Österreich-Häusern" in wichtigen Märkten, wo Regierung, Wirtschaft und andere Interessen gemeinsam österreichische Interessen vertreten, kann erfolgversprechend sein, wenn dort wirklich strategisch und operativ zusammengearbeitet wird.

Problematische Vorschläge

Dennoch gibt es eine Reihe problematischer Ausführungen beziehungsweise Versäumnisse im Regierungsprogramm. Besonders die wiederkehrenden "Anti-Ausländer"-Ausführungen sind hier anmerken, die nur hochqualifizierte, von österreichischen Unternehmen dringendst benötigte Fachkräfte als positiv sehen. Was das "Recht auf Bargeld" in der Verfassung soll, ebenso wie eine neue Staatszielbestimmung der Stärkung des "Wirtschaftsstandortes", wissen nur die Verfasser. Die Wiederholung der Abschaffung jeglichen "gold platings" bei EU-Regeln - dass also Österreich etwa strengere Bestimmungen als von der EU als Mindeststandards vorgegebenen Ziele festlegen könnte - steht im Widerspruch zu den bei Ernährung und Lebensmitteln hochgelobten österreichischen Standards, die man auch in Handelsverträgen berücksichtigt haben will. Ob die geforderte Zusammenlegung der Finanzmarktaufsichtsagenden von Nationalbank und Finanzmarktaufsicht (Seite 18) viel bringen kann, wurde kürzlich endlos diskutiert. Die Etablierung eines "Standortanwalts" (Seite 134) vor allem bei Umweltverträglichkeitsverfahren, um das "öffentliche Interesse" (offenbar gegen die Interessen der Umweltschützer) durchzusetzen, ist offenbar der Ablehnung der dritten Flughafenpiste in Wien-Schwechat durch den Verwaltungsgerichtshof geschuldet. Hier sollen Wirtschaftsinteressen offenbar institutionalisiert Vorrang vor Gesellschafts- und Umweltinteressen erhalten.

Für die Unternehmensseite hat sich offenbar die Neue ÖVP gegenüber der FPÖ durchgesetzt, indem die Ratifizierung des EU-Kanada-Handelsabkommens ein Regierungsübereinkommen ist (Seite 141). Eigenartig ist die Forderung einer Senkung der Körperschaftsteuer (Seite 127) mit der Argumentation, damit den Klein- und Mittelbetrieben die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern: Die meisten KMU zahlen allerdings Einkommen- und nicht Körperschaftsteuern. Die Bindung von EZA-Mitteln an Kooperation bei der Rücknahme von Flüchtlingen zu binden (Seite 25), widerspricht dem Sinn der EZA, Armut zu bekämpfen. Nicht überraschend ist die Forderung (der Neuen ÖVP) zur Abgabenerleichterung bei Schaffung von Eigenheimen.

Zu fürchten wird auch sein, was genau unter der Neudefinition des "öffentlichen Interesses" im ORF zu verstehen ist: Die Provinzialisierung durch die Forderung, mehr österreichische Künstler im ORF vorkommen zu lassen, um damit die "österreichische Identität" zu stärken (Seite 84), schlägt sich - oder auch nicht - mit der Leerformel, dass "Österreich eine Kulturnation" sei. Was soll das heißen: noch mehr Volksmusik à la "Österreich Regional" oder "Musikantenstadl"?

Digitalisierung des Staates

Einiger Umfang ist der Digitalisierung gewidmet, die in der Forderung, dass Österreich "Innovationsführer" werden sollte, gipfelt. Dabei wird Digitalisierung sehr instrumentell gesehen, vor allem als Mittel, den Staat effektiver zu machen und zu verschlanken. Inwieweit die österreichische Forderung nach der "digitalen Betriebsstätte" zur Besteuerung der Aktivitäten der Internet-Dienstleister-Giganten europäisch durch- und in Österreich umsetzbar sein wird, ist abzuwarten. Solche statischen Definitionen können wohl immer von findigen Steuerberatern umgangen werden.

Zwar nennt das Regierungsprogramm auch Korruptionsbekämpfung als Ziel, klinkt sich aber überhaupt nicht in die bestehenden Vorhaben auf OECD- und EU-Ebene ein: Gerade an solchen Initiativen würde sich die viel geforderte "Europafreundlichkeit" der neuen Regierung zeigen. Der Wunsch nach Beteiligung an den Bahnprojekten der neuen Seidenstraße (Seite 148) und am Ausbau einer Breitspurbahn (nicht gesagt wird: aus Russland) scheint eher dem Christkind geschuldet als tatsächlichen Planungen.

Keine Zukunftsvision

Diesem Programm fehlt es an "Vision". Es beackert, teilweise zurecht, teilweise problematisch, in einer Vielzahl von Einzelinitiativen lange und erst kürzer anstehende Problembereiche. Es zeigt aber keine Zukunftsvision auf, wie die Lebenssituation der österreichischen Bevölkerung und der hier wohnenden "Ausländer" in fünf Jahren sein soll. Damit fehlen ihm zündende Ideen, die den vielfach verkündigten "Neuigkeitsanspruch" vermissen lassen. Offenbar haben die Interessen "der Wirtschaft" jene der Arbeitnehmer weit überflügelt. Natürlich sind viele angesprochene Bereiche längst überfällig, andere machen Angst, da sie die Polarisierung der Bevölkerung weiter forcieren werden und das Land gesellschaftspolitisch zurückwerfen könnten. Vom mehrfach beschworenen ökonomisch-ökologisch-sozialen Ausgleich der Lebensbedingungen ist kaum etwas zu sehen.

Das Programm liest sich in vielen Bereichen wie die vielen Rechnungshof-Berichte, die Ausführungen des Österreich-Konvents, die Bestandsaufnahme diverser Forschungsinstitute. Es hat in der Wirtschaftspolitik eindeutig "neoliberalen" Charakter insofern, als es der gesamtwirtschaftlichen Steuerung, der nachfrageseitigen Wachstumsbeeinflussung, der gesamtwirtschaftlichen Funktion des öffentlichen Haushaltes gar keine, den angebotsseitigen "Reformen" vollständige Steuerungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft zuordnet. Dies ist auch folgerichtig, wenn man die Zusammensetzung der Verhandlungsteams und vor allem der neuen Bundesregierung ansieht: kein einziger Volkswirt weit und breit. Das unterscheidet sie allerdings kaum von den Vorgänger-Regierungen, in denen ebenfalls auf diese Expertise (weitgehend) verzichtet wurde. Damit liegt man im EU-Mainstream, der ja auch der Europäischen Zentralbank die gesamtwirtschaftliche Steuerung überlässt; die wichtige komplementäre Rolle der Finanzminister erschöpft sich primär in der Umsetzung des Fiskalpaktes, also der Zurückdrängung der Bedeutung öffentlicher Budgets. Dem Volkswirten Alexander van der Bellen als Bundespräsidenten sollte es aber zu denken geben.