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Die Grenzen der Inklusion

Von Ernst Smole

Gastkommentare
Ernst Smole ist Musikerzieher, Dirigent und Unternehmer im Bildungs- und Tourismusbereich. Er leitete bis 2010 die als Inklusionsschule geführte Johannes Brahms Musikschule der Stadt Mürzzuschlag. Bis 2006 war er auch Co-Geschäftsführer des Kunsthauses Mürzzuschlag und koordiniert ein rund 50-köpfiges multidisziplinären Team zum "Unterrichts:Sozial:Arbeits- und Strukturplan für Österreich 2015 - 2030" (www.ifkbw-nhf.at). Foto: privat

Beim Thema Sonderschule wird eine UN-Konvention fehlinterpretiert. Nötig sind Sonderschulen, die sich gezielt der Probleme der Kinder annehmen, die aber auch ihre Stärken erkennen.


Die Debatte über die ideale Schule für Menschen mit Benachteiligung - oft Kinder mit Lernschwäche, aber auch solche mit mehrfachen psychischen und physischen Behinderungen - beruht auf einer Fehlinterpretation der UN-Behindertenrechtskonvention, die keinesfalls "zu einer inklusiven Schule für alle Kinder verpflichtet und Sonderschulen verbietet", wie gerne behauptet wird. Die innerhalb der UNO für Bildung zuständige Unesco wird stark von Entwicklungs- und Schwellenländern dominiert, da gerade diese oft massiven Bedarf an der Optimierung ihrer Schulsysteme und an der Verwirklichung einer Beschulung aller Kinder haben. Dies ist dort oft nicht gegeben.

In manchen dieser Länder sind Kinder mit Behinderungen überhaupt nicht vom Schulsystem erfasst. So gingen wiederholt Berichte über Indien durch die Medien, wo Kinder mit Behinderung teils ohne jegliche Schulbildung und ohne nennenswerte Betreuung in halbverfallenen Lagerhäusern dahinvegetieren - sie sind vom öffentlichen Schulwesen ausgeschlossen. Und gerade auf diesen Ausschluss aus dem Öffentlichen Schulsystem bezieht sich die UN-Behindertenrechtskonvention. Daraus hierzulande die Verpflichtung zu inklusiven Schulen und zur Abschaffung der Sonderschulen ableiten zu wollen, ist daher unzulässig. Österreich mit seinen ins öffentliche Schulsystem integrierten Sonderschulen entspricht vollinhaltlich der UN-Behindertenrechtskonvention.

Das Problem sind nicht die Schüler, sondern der Unterricht

Somit ist Österreich in seinen Entscheidungen, welche Wege es hin zu welchen optimalen öffentlichen Schulen für alle beschreitet, völlig frei. Ein Tabuthema ist, dass von hinsichtlich der Schülerpopulation vergleichbaren Schulen von manchen Klassen immer wieder, von anderen nie Sonderschulzuweisungen wegen Problemen mit dem Deutschlernen vorgeschlagen werden. Dies zeigt, dass oft nicht die zu Sonderschüler zu machenden Kinder das Problem sind, sondern die Qualität des Deutschunterrichtes.

Sonder-Fortbildung für Lehrer statt Abschiebung von Kindern

Dies erfährt seine Bestätigung in den teils öffentlich ausgetragenen Debatten unter Lehrer, deren Einschätzungen oft diametral entgegengesetzt sind, wenn es um die Frage des Deutschunterrichts in Klassen mit 100 Prozent nicht deutschmuttersprachigen Kindern geht. "Das kann ja gar nicht funktionieren", lautet die eine Position. "Wie bitte, wo ist das Problem?", fragen die anderen. Letztere sind gottlob häufiger anzutreffen, als man vermuten würde - die öffentlich weit vernehmbarere Meinung ist aber leider die erstere. So wundert es nicht, dass der Eindruck entsteht, der Niedergang des heimischen Schulsystems - massive Schwächen im Lesen, Schreiben, Rechen und Üben - wäre ein von Ausländern verursachtes Problem. Zutreffend ist das Gegenteil! Bereits in den 1980ern haben Studien auf steigende Probleme in diesen Grundkompetenzen hingewiesen - massenhafte Fluchtbewegungen wie 2015/2016 hatten damals keine stattgefunden.

Unterrichtsbesuche zeigen ein klares Bild: Hilflosigkeit und Lärm bei der einen Lehrperson, engagiertes, fröhliches und erfolgreiches Arbeiten bei der anderen. Verfolgt man den Unterricht in den Klassen "live", dann entdeckt man rasch, warum es in der einen bestens funktioniert und in der anderen gar nichts geht - obwohl in beiden Klassen nicht ein einziges Kind mit Deutsch als Muttersprache sitzt.

Was tun? Statt jener Kinder, die wegen des Scheiterns ihrer Lehrer in die Sonderschule überstellt werden, müssten deren Lehrer in den Genuss einer speziellen Sonder-Fortbildung kommen, die ihnen das Gelingen ihres Unterrichtes sichert - dies ist als Notwendigkeit und nicht als Strafe zu sehen, denn kaum eine Lehrperson hat in der Lehrerbildung die nötigen Werkzeuge zur Bewältigung der heutigen Unterrichtsanforderungen mitbekommen. Doch am einfachsten und wirkungsvollsten ist es, wenn mit sich selbst unzufriedene Lehrerpersonen den gelingenden Unterricht von Kollegen miterleben und davon lernen. Es gibt Schulen, die dies praktizieren - so gut wie immer mit großem Gewinn für alle Beteiligten.

Die Eltern potenzieller Sonderschüler gehören allen Schichten an. Bei Kindern mit einer (scheinbar) sonderschulrelevanten Lernschwäche, die aus bildungsuninteressierten Familien kommen, kann die Schule wenig auf einen qualifizierten Dialog mit den Eltern setzen. Viele Kinder mit Behinderungen kommen mittlerweile aus Akademikerhaushalten. Diese Eltern sind meist extrem orientiert, was die Bedürfnisse ihrer Kinder betrifft.

Inklusion fordern vor allem Eltern von Trisomie-21-Kindern

Die einzige Gruppe, die mit einiger Sicherheit mehrheitlich den Besuch ihrer Kinder in Inklusionsschulen wünscht, sind die Eltern von Kindern mit Trisomie-21 (Down-Syndrom). Nahezu alle anderen Eltern fordern besondere Schulen, die weit gezielter auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen können als gewöhnliche Regelschulen.

Beim Begriff "sonderschulrelevante Behinderung" denkt man landläufig zuallererst an Kinder mit Trisomie-21. Doch es gibt rund 1500 Arten von Beeinträchtigungen, die oft in Form von Mehrfachbehinderungen auftreten und sowohl die betroffenen Kinder als auch die Betreuenden und die Systeme massiv herausfordern. Es gibt Kinder im Wachkoma, andere benötigen mehrfach pro Vormittag eine Darmmassage oder erleiden jede halbe Stunde einen unbeherrschbaren Schreikrampf. Und die Zahl der betroffenen Kinder wird immer größer.

Auch daran darf und muss man denken: Auch Kinder mit durchschnittlicher und hoher Begabung haben ein Recht auf optimale Förderung. Dies setzt einer kompromisslosen, einer durchgehenden Inklusion bestimmte Grenzen - Grenzen, die so gezogen werden müssen, dass Sie zum Wohl aller Kinder sind. Doch auch diese Herausforderung ist bewältigbar, wenn nicht faktenferne Ideologien welcher Art auch immer ein Handeln zum Nutzen der Kinder verhindern.

Und wie denken betroffene Kinder darüber? Orientierte Eltern berichten, dass ihre Kinder mit Benachteiligung in gewöhnlichen Regelklassen oft darunter leiden, leistungsmäßig "die Letzten" zu sein - auch wenn die Lehrpersonen ihnen viel Zuwendung geben. Ich war selbst ein partiell schulversagendes Kind (nicht nur im Rechnen) - neben drei teils älteren beziehungsweise jüngeren "Vorzugsgeschwistern". Ohne die massive Hilfe dieser und meiner Eltern hätte ich niemals die Matura geschafft. "Der Bua gehört in die Sonderschule" - dies habe ich nicht nur einmal gehört. Und ohne helfende Eltern und Geschwister wäre ich vermutlich auch dort gelandet. Ein wichtiger Gewinn aus dieser Zeit: Ich kenne das Gefühl, in schulischen Belangen "der Letzte" zu sein.

Auch eine Sonderschule kann eine ideale Schule sein

Was ist zu tun? Die Fehlinterpretation der Unesco-Empfehlung (angebliches Verbot von Sonderschulen) führt in eine falsche Richtung, die einen Teil der betroffenen Kinder schädigen würde. Nötig sind Sonderschulen, die sich gezielt der Probleme der Kinder annehmen, die aber auch die Stärken dieser Kinder erkennen. Besonders Kinder, die in Teilbereichen zu kämpfen haben, können ungeahnte Kompensationsenergien entwickeln, die sie zu weit überdurchschnittlichen Leistungen in anderen Bereichen befähigen können - sozial, handwerklich, künstlerisch. Wenn einer Sonderschule dieser Multispagat gelingt, kann auch sie eine ideale Schule sein - weil sie im besten Sinne ganz, ganz nahe an den Bedürfnissen der Schüler dran ist. Und dies ist wohl das höchste Ziel für jede Schule.

"In den besten Schulsystemen dieser Welt haben alle Schüler Kontakt mit allen!" Dies ist ein seit vielen Jahren unveränderter Nebenbefund der Pisa-Tests. Das bedeutet: Kontakt aller mit allen - und wenn es nur in der Pause ist. Heute weiß man, dass Kinder, wenn sie unter sich, am besten voneinander lernen - teilweise mit mehr Erfolg als in der Schulklasse. Dies belegen beeindruckende Ergebnisse auch aus dem Bereich des Spracherwerbs.

Das Prinzip "Alle lernen von allen - zumindest in der Pause" benötigt dreierlei: ausgiebige Pausen, geeignete Schulgebäude und extrem kooperative, dünkelfreie und engagierte Schulleiter. Eines meiner drei Top-Erlebnisse in meinem Berufsleben war der Besuch einer hervorragend geführten, gewöhnlichen öffentlichen Highschool im Mittleren Westen der USA. Selbstorganisierte Eltern führten Rollstühle mit benachteiligten Kindern, das Musikprogramm der Schule war kurz davor zum besten des Bundesstaats gekürt worden, und im Biologiesaal gab es ein Elektronenmikroskop, mit dem potenzielle künftige Nobelpreisträger forschen konnten. So etwas sollte auch in Österreich, einem der reichsten Länder der Welt, möglich sein.