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Eine Totalrevision der Verfassung

Von Helmut Pietzka

Gastkommentare

Werden Politiker ihre Gesetzgebungsmacht mit den Bürgern teilen?


Den Gegnern der dualen Gesetzgebung - Beschlüsse durch gewählte Vertreter im Parlament und durch unbeeinflusste Abstimmungen der Bürger - muss widersprochen werden. Wir haben eine Verfassung, in der die Grundlage jeder staatlichen Tätigkeit, die Summe der Mitbestimmungsrechte der Bürger, wahrscheinlich absichtlich ungeregelt blieb und nur die parlamentarische Demokratie eingerichtet wurde, die die Mitbestimmung der Bürger in Sachfragen größtenteils ausschließt. Unsere Verfassung wurde aber auch nie durch Volksabstimmung genehmigt, weder 1920 noch 1929 und auch nicht bei der Wiedereinführung in 1945. Das heißt aber nicht, dass eine Änderung nicht jederzeit möglich wäre.

Von Artikel 7 Absatz 1 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes (B-VG), das allen Bürgern die gleichen Rechte gewährt, lässt sich ableiten, dass das duale System der Gesetzgebung eigentlich die Norm in einer voll entwickelten Demokratie sein sollte, setzt aber kluge Organisation dieser schwierigen Zusammenarbeit zwischen Parlament und Volk voraus. Dadurch würde der jetzt bloß eine Worthülse darstellende Artikel 1 B-VG mit Inhalt gefüllt; die Bürgerschaft stiege zur obersten Gesetzgebungs- und Kontrollinstanz auf, während die gewählten Abgeordneten ihr gesichertes Alleinentscheidungsrecht verlören.

Jeder Bürger hat neben den persönlichen Schutz- und Freiheitsrechten auch das gleiche Mitbestimmungsrecht in der Gemeinschaft und besitzt die gleiche Mitbestimmungsmacht. Die Mitbestimmungsmacht eines Experten entspricht jener des ungebildeten Laien, es ist nur die Sachkenntnis des Experten, die den Unterschied zwischen ihnen ausmacht. In der Rechtsgleichstellung kommt die Heiligkeit der Person, des Individuums, zum Ausdruck.

Das Mitbestimmungsrecht der Bürger betrifft die Teilnahme an Gesetzgebung, Gesetzesdurchführung und Kontrolle der Gesetzesdurchführung. Es umfasst ausnahmslos alle: die Bürger und ihr Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft sowie die Beziehungen mit anderen staatlichen Gemeinschaften betreffende Rechtstatbestände. Jede andere Regelung würde gegen Artikel 7 B-VG verstoßen, der jegliche Bevorrechtung von Personen oder Gruppen verbietet. Es gibt also keine politischen Entscheidungen, von denen die Bürger ohne ihre Zustimmung ausgeschlossen werden könnten oder die sie Fachleuten überlassen müssen.

Mitbestimmungsrecht der Bürger in zwei Teilen

Da das Mitbestimmungsrecht aus praktischen Gründen an Vertreter abgetreten wird, trennt man es in zwei Teile: einen, der bei Wahlen abgetreten wird, und einen, der nur höchstpersönlich ausgeübt werden kann. Letzterer enthält das Recht auf Mitbestimmung bei der Totalrevision der Verfassung, bei Gesetzesvorschlägen mit Passagen im Verfassungsrang und bei allen anderen Gesetzesvorschlägen.

Auch die Entscheidungen über die Einführung oder die Abschaffung der Todesstrafe, über das Eingehen oder die Kündigung der EU-Mitgliedschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages oder über das Ausscheiden eines Teilgebiets aus dem staatlichen Verbund ist eingeschlossen. Die Mitbestimmung der Bürger erfolgt in der Praxis bei nicht akzeptablen Entscheidungen und Untätigkeit des Parlaments durch Veto- und Initiativreferenden.

Der übertragbare Teil des Mitbestimmungsrechtes der Bürger ist die einzige Legitimation der gewählten Vertreter zum politischen Handeln. Er wird bei Wahlen für die Dauer einer Legislaturperiode an die gewählten Abgeordneten abgetreten. Dies stellt den Kern des Wahlvorgangs in der parlamentarischen Demokratie dar.

Einführung von Referenden alleine genügt nicht

Die in unserer Verfassung vorgesehene Volksabstimmung ist kein Bürgerrecht, da der Einsatz dieses direktdemokratischen Instruments von der Parlamentsmehrheit genehmigt werden muss und meist strategisch genutzt wird. Volksbegehren und Volksbefragung sind nur unverbindliche Bitten um Prüfung eines Vorschlages durch die Parlamentarier.

Macht schon die Einführung der Referenden alles besser? Auch nach Einführung des direktdemokratischen Stranges der Gesetzgebung ist noch nicht gewährleistet, dass die Mitsprache der Bürger die Weiterentwicklung der Gesellschaft verbessern wird.

In alle Gemeinden sind Bürgerzentren einzurichten, die an Pflichtterminen zu Pflichtthemen in Pflichtqualität Informationen zur Verfügung stellen, damit alle Teile der Bevölkerung mitmachen und die Verminderung der Fremdbestimmung erleben können. Die Informationen sind Bringschulden der gewählten Abgeordneten und nehmen neben den Vorschlägen der Regierung und der Parteien auch die Analysen von Experten und die Vorschläge der Bürger auf. Diese Faktensammlung reicht zur Überwachung der gewählten Abgeordneten und der unter ihrer Kontrolle arbeitenden Regierungsinstitutionen. Auch Wahlen finden hier statt.

Es müssen Sachgebiete festgelegt werden, in denen die Bürger in einer Übergangszeit die Mitbestimmung unter Nutzung der verfügbaren Informationen erlernen können, ohne direkt in die Gesetzgebung einzugreifen. Rahmenpläne, die die Entwicklungsziele von Bereichen wie dem Bildungswesen vorgeben, eignen sich besonders gut dafür. Diese Rahmenpläne werden jährlich erneuert.

Ständiger Wahlkampf macht neues Wahlrecht nötig

Im dualen Gesetzgebungssystem wird ständiger Wahlkampf herrschen, daher ist auch ein neues Wahlrecht nötig. Pläne der Parteien müssen mit gewünschter Wirkung, Kosten und Terminen den Bürgerzentren zur Verfügung gestellt werden. Die Erstattung der Wahlkampfkosten mit Steuergeld muss eingeschränkt werden.

Notwendig sind auch neue Politiker, die ihre Lösungen nicht als alternativlos darstellen, sondern auf die Bürger zugehen und ihre Ansätze detailliert erklären. Natürlich ist dies zeitaufwendiger als die berüchtigten "Speed kills"-
Aktionen. Bisher hatten die gewählten Abgeordneten keine Rechenschaftspflicht, das muss sich ändern.

Bürger, die Minderheitengruppen angehören, haben Anspruch auf Schutz durch die Menschenrechte, wenn es nicht eigene entsprechende Gesetze dazu gibt. Nichtbürger finden Schutz in den Menschenrechten sowie in Asyl-, Flüchtlings- und Zuwanderungskonventionen. Das Mitbestimmungsrecht können aber nur die Bürger eines Landes haben, alle übrigen können sich um die Bürgerschaft bewerben. Nicht das Parlament mit seinen Abgeordneten, sondern die Gemeinschaft der Bürger mit ihren Mitbestimmungsrechten verkörpert den Souverän und seine Entscheidungsfreiheit.

Ein passendes Zitat dazu stammt von Immanuel Kant: "Habt Mut euch eures eigenen Verstandes unbeeinflusst zu bedienen."