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Auf dem Datenfriedhof

Von Jesus Crespo Cuaresma, Harald Oberhofer und Gerhard Schwarz

Gastkommentare

Ein restriktiver Zugang der Wissenschaft zur Bundesstatistik schadet Österreich.


Mehr als 50 Millionen Euro jährlich wendet der Bund für die Sammlung, Auswertung, Publikation und Speicherung von Statistikdaten auf (siehe Paragraf 32 Absatz 5 Bundesstatistikgesetz). Die für diese Tätigkeiten zuständige Bundesanstalt Statistik Österreich (Statistik Austria) beschäftigt mehr als 700 Personen. Dennoch ist der Zugang der Wissenschaft zu statistischen Daten in Österreich mangelhaft und liegt weit hinter den Möglichkeiten, die vergleichbare europäische Länder bieten. Daten werden zwar gesammelt, aber nur in einem geringen Ausmaß für wissenschaftliche Zwecke und evidenzbasierte Politikberatung verwendet. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang gerne von einem österreichischen Datenfriedhof.

Darunter leidet der Wirtschaftsstandort Österreich. Evidenzbasierte Wirtschaftspolitik auf einem wissenschaftlichen Fundament ist oftmals deshalb nicht möglich, weil die österreichische Gesetzeslage hinsichtlich der wissenschaftlichen Nutzung von Statistikdaten sehr restriktiv ist. So ist der Wissenschaft der Zugang zu anonymisierten Daten selbst dann verwehrt, wenn aufgrund bestimmter Merkmale nur indirekt auf die Identität einzelner Merkmalsträger geschlossen werden könnte (Paragraf 31 Absatz 3 Bundesstatistikgesetz).

Dies führt dazu, dass der Wissenschaft in Österreich praktisch der Zugang zu Individualdaten der Bundesstatistik verwehrt ist, insbesondere - aber nicht nur - wenn es sich um unternehmensbezogene Daten wie etwa den Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen oder Informationen über die Inanspruchnahme von unternehmensbezogenen Fördermaßnahmen handelt. Es ist de facto nicht möglich, die Identität großer oder stark spezialisierter Unternehmen zu verbergen. Ein Ausschluss solcher Unternehmen würde jedoch die Daten und damit auch die Ergebnisse stark verzerren und sie für die Bewertung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen unbrauchbar machen, denn gerade große Unternehmen haben naturgemäß einen massiven Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen.

Massive Nachteile in mehrfacher Hinsicht

Die unzureichende Verwendbarkeit von Statistikdaten zu wissenschaftlichen Zwecken schädigt Österreich in mehrfacher Hinsicht. Erstens beeinträchtigt er das öffentliche Gemeinwohl und schwächt den Wirtschaftsstandort Österreich. Bestimmte politische Maßnahmen können derzeit nicht effektiv evaluiert werden, da moderne Evaluierungsverfahren auf Individualdaten angewiesen sind. Dies betrifft die Innovations- und Technologiepolitik ebenso wie die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, das Steuerwesen und das öffentliche Förderwesen. Die Politik kann somit über weite Strecken nicht evidenzbasiert ausgestaltet und wissenschaftlich rigoros evaluiert werden.

Zweitens entstehen höhere Kosten bei schlechterer Qualität auf allen Seiten: In Fällen, wo dennoch wissenschaftliche Evaluierungen durchgeführt werden, müssen (anhand von Umfragen) zusätzliche Erhebungen durchgeführt werden. Diese verursachen nicht nur unnötige Kosten beim (öffentlichen) Auftraggeber der Evaluierung und bei den hierdurch mehrfach befragten Personen und Unternehmen. Sie führen auch zu einer schlechteren Qualität der Daten, da keine Meldepflicht besteht und die Teilnahmequoten daher deutlich unter jenen liegen, die amtliche Erhebungen erzielen.

Ein hausgemachtes österreichisches Problem

Es ginge auch anders. In Dänemark, zum Beispiel, wirbt die Statistikbehörde aktiv für die Nutzung von Individualdaten der amtlichen Statistik. Sie hat zur Bereitstellung dieser Daten sogar eine eigene Abteilung mit 17 Fachkräften eingerichtet. In anderen EU-Mitgliedsländern wie etwa den Niederlanden, Schweden, Estland, Frankreich und Finnland ist ein Zugang zu Individualdaten der amtlichen Statistik für Forschungszwecke ebenfalls seit Längerem etabliert. Deutschland ermöglicht seit 2016 wissenschaftlichen Einrichtungen den Zugriff auf personenbezogene Individualdaten. Datenschutz und Statistikgeheimnis werden in diesen Ländern durch rigorose Datensicherheitsmaßnahmen sowie durch strenge Kriterien zur Auswahl der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Zugang zu Individualdaten erhalten, gewährleistet. Die statistischen Ämter der oben erwähnten Länder bieten kontrollierte Fernrechenmöglichkeiten sowie "Safe Center"-Lösungen an. Hierdurch kann die Wissenschaft auf individuelle Daten zu Forschungszwecken zugreifen, die Auswertung und Darstellung der Ergebnisse lässt jedoch keine Rückschlüsse auf einzelne Individuen und Unternehmen zu. In Österreich dagegen stehen ForscherInnen oftmals vor unüberwindlichen Hürden, wenn sie für ihre wissenschaftliche Tätigkeit statistische Individualdaten benötigen.

Wie die Beispiele aus anderen europäischen Ländern zeigen, ist eine derartig strenge Umsetzung des Statistikgeheimnisses rechtlich nicht geboten und ein österreichisches Spezifikum. So ermutigt die europäische Rechtsetzung sogar dazu, der Wissenschaft den Zugang zu Individualdaten der amtlichen Statistik zu ermöglichen, auch dann, wenn einzelne Merkmalsträger identifizierbar sein sollten. Eine Ermutigung, die vom österreichischen Gesetzgeber bisher ignoriert wurde.

Eine evidenzbasierte Wirtschaftspolitik ermöglichen

Zur Stärkung des Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorts Österreich muss es der Wissenschaft möglich sein, sich verstärkt mit Österreich zu beschäftigten und Evidenz zur österreichischen Wirtschaftspolitik vorzulegen. Die Wissenschaft würde diesem Anliegen sehr gerne nachkommen. Den gesetzlichen Rahmen muss die Politik setzen. Ein verbesserter Zugang zu statistischen Daten für Forschungszwecke unter der selbstverständlichen Wahrung des Datenschutzes ist möglich und würde zur Etablierung evidenzbasierter Wirtschaftspolitik in Österreich massiv beitragen. Die Einrichtung bzw. Erweiterung von "Safe Center"-Lösungen wäre hierzu ein international etablierter und gangbarer Weg. Es ist an der Zeit, dem österreichischen Datenfriedhof Leben einzuhauchen.