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"Die Versuchung der Gläubigen"

Von Friedrich E. Starp

Gastkommentare

Das "Vater unser" und die Frage der korrekten Übersetzung.


Es ist irgendwie bezeichnend, wenn ein 60-köpfiges Expertengremium seit zehn Jahren an einer Auslegungsvariante zum "Vater unser" tüftelt - offenbar ohne zu einem greifbaren Ergebnis zu kommen. Dabei wäre es viel einfacher: Wenn wir nicht den Fehler machen, unser persönliches Missfallen an die Stelle des geschriebenen Wortes zu setzen, brauchen wir solche Gremien nicht wirklich.

Die sechste Bitte im "Vater unser" lautet: "Führe uns nicht in Versuchung." Oder wie es in anderen Übersetzungen heißt: "Stelle uns nicht auf die Probe." Wenn Jesus uns diese Bitte in den Mund legt, so wohl deshalb, weil er unsere Versuchung an den Tag bringen will, das Gericht in eigene Hände zu nehmen, so wie das der Pharisäer tut, wenn er behauptet, dass das Wort des Gesetzes der Wille Gottes sei. Wir bitten Gott um Stärke, der Versuchung des Schöpfungswerkes zu widerstehen, die sich beispielsweise darin äußert, dass wir alle an der Sucht leiden, die uns dazu treibt, mehr zu nehmen, als wir brauchen, und unser eigenes Recht auf Kosten anderer einzufordern.

Der biblische Gott stellt sein Volk auf die Probe

Wenn die Übersetzer im Laufe der Jahrhunderte versucht haben, den Wortlaut der sechsten Bitte im Vaterunser zu ändern, so liegt es daran, dass man sich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass Gott uns in Versuchung führt. Ende 2017 nahm überraschenderweise Papst Franziskus zur Sache Stellung, weil auch er nicht der Auffassung war, dass Gott ein Versucher sei. Er schlug folgende Übersetzung vor: "Lass uns nicht in Versuchung kommen." Das ist allerdings keine gute Übersetzung, sie reißt den griechischen Grundtext aus seinem biblischen Zusammenhang und entfernt Gott aus der Versuchung. Aber der biblische Gott erprobt immer wieder sein Volk, das nicht selten der Versuchung erliegt.

Aus einer Gleichung zwischen Gut und Böse entfernen Papst Franziskus und viele mit ihm einfach Gott, weil sie nicht haben wollen, dass Prüfungen und Versuchungen von Gott kommen. Er ist außerhalb der Welt von Prüfungen und Versuchungen, die allein Werk des Bösen sind. Das ist das alte dualistische Weltbild, das sich hier entfaltet in all seinem kosmologischen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Himmlischen und dem Irdischen.

Das Problem ist aber nicht allein ein philologisches Übersetzungsproblem, sondern vor allem ein christologisches. Es geht um Christus. Christus wurde Mensch, ganz und gar Mensch, geboren von einer jungen Frau - und ist doch noch immer Gott. Das ist in sich paradox. Aber wir müssen daran festhalten, dass Gott Mensch wurde, und dass er deshalb kein Halbgott war, sondern wirklich ein Mensch mit Gefühlen, Sinnen und Trieben.

Jesus Christus wurde versucht und überwand sich selbst

Als Mensch konnte Jesus versucht werden, und er wurde versucht. Aber er bestand die Prüfungen durch 40 Tage des Fastens im Wechsel zwischen Hitze und Kälte in der Wüste. Er überwand sich selbst, fand seine eigene Bestimmung wieder, die der Welt verkündet worden war, als Johannes ihn getauft und Gott vom Himmel gerufen hatte: "Du bist mein geliebter Sohn, in dir habe ich Wohlgefallen." (Markus 1,11)

Wenn man die Prüfungen als etwas versteht, das von außen kommt, eine andere Macht, dann verkennt man Jesu Aufgabe, sich selbst zu überwinden und den Prüfungen zu widerstehen, um sich dadurch mit seiner eigenen Bestimmung zu versöhnen. Ein Kampf, den Jesus auch auf dem Weg zum Kreuz bestand, als er seinen Vater bat, dass ihm der bittere Kelch erspart werde.

Aber Jesus ist nicht der machtvolle Herrscher, der er hätte werden können, sondern er ist das einzig wahre Vorbild, das wir haben: ein leidender Diener, der sich durch seinen Tod mit der Welt versöhnt hat. Das Leben Jesu ist nicht ein kosmischer Kampf gegen den Satan, sondern er ist das Vorbild für einen menschlichen Kampf, den Widersacher in uns selbst zu überwinden.

"Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen" - das ist mit anderen Worten die Selbstbesinnung, zu der uns Jesus in der stillen Kammer auffordert. Erst hier können wir uns wahrhaft vor Gott demütigen und Ihn unseren Selbstbetrug richten lassen.

Das können die Wenigsten öffentlich tun, schon aus reiner Eitelkeit. So wie Jesus in die Wüste ging, müssen wir in die stille Kammer und Gott uns prüfen lassen. Dann sind wir gestärkt, wenn wir unter Menschen Werke der Liebe tun sollen, ohne uns durch eigenen Vorteil in Versuchung führen zu lassen. Martin Luther scheint recht zu haben mit seiner Aussage, dass wir auch als Kinder Gottes zugleich Sünder und gerechtfertigt sind. Das ist paradox, und das Wesen des Glaubens und das Wesen Gottes bleiben für das Denken ein Kreuz.