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Putins Russland 4.0

Von Anton Shekhovtsov

Gastkommentare

Was die Welt in der bevorstehenden vierten Amtszeit des russischen Präsidenten erwartet.


Am 7. Dezember gab Wladimir Putin seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl im März 2018 bekannt. Seitdem wurde bisher weder ein Programm oder eine Agenda für seine geplante vierte Amtszeit 2018 bis 2024 präsentiert, und es sieht nicht danach aus, dass dies in naher Zukunft geschehen würde. Allerdings ist anhand bestimmter Entwicklungen in Russland bereits absehbar, was der Rest der Welt von Putins Russland 4.0 zu erwarten hat.

Als Putin seine Entscheidung verkündete, ein weiteres Mal für das Amt zu kandidieren, atmeten die russischen Eliten wahrscheinlich erleichtert auf. Dass die russische Führung unter Putin kein kohärentes Ganzes ist, sondern ein Konglomerat aus verschiedenen Elitegruppen mit eigenen Interessen und Zielen, die um Ressourcen buhlen und gegnerische Gruppen schwächen wollen, kommentieren einige Russland-Experten so: "Der Kreml hat viele Türme." In diesem System spielt Putin die Rolle des Moderators im Wettbewerb und des obersten Schiedsrichters im Konflikt dieser Eliten.

Mit Putin würde das ganze System fallen

Diese Rolle Putins ist einzigartig: Er errichtete dieses System selbst und für sich selbst, was bedeutet, dass sein möglicher Rauswurf aus dem Schiedsrichterturm, zum Beispiel falls er die Präsidentenwahl im März verlieren sollte, eine dramatische Destabilisierung des Systems und schließlich dessen Kollaps auslösen würde. Man könnte sagen, dass die Eliten Putins Präsidentschaft mehr brauchen als er selbst. Aber er braucht sie auch. Denn er hat noch keinen Kandidaten gefunden, der ihn bei einer Wahl besiegen und ihm eine ähnliche Immunität verschaffen würde, wie sie Putin Boris Jelzin als sein Nachfolger im Jahr 2000 zugesichert hatte. Und sollte er eine entsprechende Person finden, kann man nicht davon ausgehen, dass er oder - im sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es eine Frau wäre - sie von den Eliten als Moderator ihrer Konflikte akzeptiert würde, wobei das die eine Gruppe stärken, die anderen belasten und das Gleichgewicht des gesamten Systems durcheinanderbringen würde.

Allerdings ist schon jetzt eine Destabilisierung von Putins System zu beobachten. Der Unruhestifter ist Igor Setschin, der Geschäftsführer des staatlichen Ölkonzerns Rosneft, der auf der US-Sanktionsliste steht. Der Anführer einer der konservativsten Elitegruppen ist ein enger Vertrauter Putins und begleitet diesen seit 1994 in dessen diversen Positionen. Vergangenes Jahr initiierte Setschin mithilfe des Föderalen Dienstes für Sicherheit einen Antikorruptionsverfahren gegen Ex-Wirtschaftsminister, Alexej Uljukajew, der von Setschin laut dessen eigenen Angaben eine Bestechung erpressen wollte. Im Dezember 2017 wurde Uljukajew zu acht Jahren Haft in einer Gefangenenkolonie verurteilt.

Als Setschin die Ermittlungen gegen Uljukajew ins Rollen brachte, brach er damit eine unausgesprochene Wettbewerbsregel, die innerhalb der russischen Eliten gilt: Konflikte sollten untereinander und nicht öffentlich ausgefochten werden.

Ultrakonservative bringen die innere Balance durcheinander

Uljukajews Fall zog sehr viel Aufmerksamkeit auf sich, drehte sich allerdings nicht um ihn selbst: Verglichen mit Setschin ist er eine unbedeutende Figur. Vielmehr zeigte der verwegene und unverschämte Schachzug, der die antagonistische Elite, zu der Uljukajew gehörte - nämlich den ideologiefreien und wirtschaftsliberalen Kreis um Ministerpräsident Dmitri Medwedew -, demütigen und beschädigen sollte, dass Setschins ultrakonservative Gruppe in Putins System Überhand nimmt und somit die innere Balance durcheinanderbringt.

Es gibt einige weitere Indikatoren, die darauf hinweisen, dass Putins System in dessen vierter Amtszeit nicht nur noch konservativer und reaktionärer wird, sondern auch einen noch anti-westlicheren Ton pflegen wird. So wurde Putins Präsidentschaftskandidatur bei der Ausstellung "Russland - Meine Geschichte" am 26. Dezember 2017 verkündet. Organisiert wurde diese vom russisch-orthodoxen Bischof Tikhon, der als spiritueller Berater des Kreml-Chefs gilt und der inoffizielle Anführer eines monarchistischen und extrem konservativen Zirkels innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche ist.

Die Wahl eines solchen Ortes für die offizielle Verkündung der Kandidatur hat symbolischen Charakter: Viele russische Historiker meinen, dass Tikhons Ausstellung, tatsächlich eine Ansammlung von Unwahrheiten, dem Konservatismus und Autoritarismus huldige und zeige, dass alle Versuche, Russland zu demokratisieren, bloß westliche Intrigen und dem russischen Volk natürlich fremd seien.

Destabilisierung schränkt Flexibilität des Kreml ein

Der Geschichtsmissbrauch und -revisionismus des Kreml, seine Legitimierung der offen autoritären Praktiken und seine zunehmende Besessenheit von der "westlichen Verschwörung" zeigte sich kürzlich auch in einem Interview mit Alexander Bortnikow, dem Chef des Föderalen Dienstes für Sicherheit, der in Putins System ebenfalls viel Macht hat. Bortnikow verteidigte Josef Stalins massive politische Repressionen mit dem Argument, dieser habe gegen "ausländische Agenten" gekmpft. Seiner Meinung nach müsse der Kampf gegen die "fünfte Kolonne" in Russland fortgeführt werden, da "die Zerstörung Russlands noch immer eine Wahnvorstellung im Westen" sei.

Der Aufstieg der Ultrakonservativen destabilisiert Putins System, und diese Destabilisierung schränkt die Flexibilität der russischen Staatsführung ein - eine Flexibilität, die bisher ein großer Vorteil des Systems war, und zwar russlandweit und international. Nun scheint es, dass Russland 4.0 die Gesellschaft für die Unterstützung des Kreml mit drei Narrativen mobilisieren wird: mit der historischen Erhabenheit des Landes, mit Russlands Inkompatibilität mit der Demokratie und mit der Mär von der westlichen Verschwörung.

Vor dem Hintergrund des zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Abstiegs bedeutet dies, dass die Repressionen im Inland und die Aggressionen in den Beziehungen zum Ausland zunehmen werden.