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Opportunismus rules

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Im Spiegelkabinett der Republik.


"Profil"-Chefredakteur Christian Rainer hat das Jahr mit einer Selbstrüge begonnen: Wir, also die Medien, hätten nicht erkannt, was der Wille des Wählers sei. Denn dieser ist nicht moralisch und gut. Deshalb sei die Menschenrechtscharta nur eine Vision. "Ein Spiegel der menschlichen Moralvorstellungen sind diese Satzungen wohl nicht."

Dieser Selbstgeißelung zufolge wäre also der ideale Journalist, wohl auch der ideale Politiker jener, der diesen Wählerwillen ideal spiegelt. Jener also, der statt seiner eigenen Meinung der Anpassung an das, was er als gegeben unterstellt, folgt.

Matthias Strolz hat dieser Tage Sebastian Kurz genau so charakterisiert. Das Wort dafür lautet: Opportunist. Laut Strolz bedeute das: ohne inneren Kompass, ohne inhaltlichen Auftrag. Eine Anlehnung an das, was man gerade für opportun hält. Eine Spiegelung des präsumtiven Wählerwillens. Ist es dieser Opportunismus, der - anders als im Jahr 2000 - in die "Profil"-Chefredaktion Einzug halten soll?

Was aber ist dieser Wille? Nehmen wir etwa den Fall des diesjährigen Neujahrsbabys. Das Bild dieses Neugeborenen in den Armen seiner kopftuchtragenden Mutter hat - gemessen an den Reaktionen, die es ausgelöst hat - punktgenau etwas getroffen. Einen Willen? Dieses Bild ist vielmehr ein ideales Bild für das, was Ivan Krastev eine "demografische Panik" nennt - die Furcht der Mehrheitsgesellschaft vor dem "ethnischen Verschwinden". Der Exzess, den das Bild in den sozialen Medien ausgelöst hat, belegt das deutlich. Ist diese Angst eine reale, in der Sache begründete Angst? Oder ist sie - an den Fakten gemessen - nicht vielmehr eine völlig irrationale Panik?

Soll Politik, sollen die Medien das einfach spiegeln? Spiegeln, als ob es diese Stimmung einfach gäbe, als ob dieser "Wille" einfach da wäre in der Art, wie ein Tisch da ist - ohne Zutun? Übersieht man da nicht etwas? Tatsächlich haben wir nicht zu wenig Spiegelung, sondern zu viel. Das Land versinkt gerade in einem Spiegelverhältnis.

Die neue Regierung unterstellt einen Willen des Wählers - etwa einen Willen zur Xenophobie -, den sie eben durch diese Unterstellung hervorruft, verstärkt, befördert, vor allem aber enthemmt. Und dann spiegelt sie die solcherart erzeugte Stimmung. Als solches Spiegelkabinett der Republik vollzieht sich der Machtwechsel - die zügige Umfärbung der Spitzenfunktionen nach Art einer feindlichen Übernahme wird von einer völligen Enthemmung in den Internetforen begleitet. Oder sollte man besser sagen:
gespiegelt?

Christian Rainer hat - wie übrigens auch BP Heinz Fischer, ebenfalls im "Profil" - die Natur des Menschen entdeckt. Und diese Natur ist nicht gut. Nicht moralisch. Nicht menschenrechtskonform. Aber diese Natur ist eben eine menschliche und keine natürliche Natur. Sie ist nicht unveränderbar, sondern formbar. Also veränderbar. Deswegen sind Menschenrechte eben keine schöne Vision, sondern ein Regulativ. Ein Regulativ aber ist kein Spiegel. Es ist vielmehr eine Richtschnur fürs Handeln. So wie auch die Politik und die Medien den "Wählerwillen" formen und verändern können. Sie können die dünne Decke der Zivilisation befestigen. Oder eben einreißen.