Zum Hauptinhalt springen

"Europa zuerst!"

Von Kurt Bayer

Gastkommentare
Kurt Bayer ist Ökonom. Er war Board Director in Weltbank (Washington) und EBRD (London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium. Er bloggt unter https://kurtbayer.wordpress.com. Foto: apa/Edith Grünwald

CDU, CSU und SPD beschwören allem voran die Verantwortung Europas in der Welt, sein Schicksal künftig stärker selbst in die Hand zu nehmen.


Die "Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD" vom 12.1.2018 erstaunen den österreichischen Beobachter durch ihren Europafokus. Das erste Kapitel dieser Gespräche handelt von den deutschen Europa-Ambitionen und umfasst immerhin 3 von 26 Seiten. Das ist sicherlich die Handschrift von Martin Schulz.

Die GroKo-Verhandler wollen (in 5 Unterkapiteln) einen "neuen Aufbruch für Europa", ein "Europa der Demokratie und Solidarität", ein "Europa der Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionen", ein "Europa der Chancen und der Gerechtigkeit", und ein "Europa des Friedens und der globalen Verantwortung".

Kapitel "Aufbruch"

Allem voran wird die Verantwortung Europas in der Welt beschworen, angesichts der veränderten Verhältnisse in den USA und dem Erstarken Chinas und der Politik Russlands, sein Schicksal künftig stärker selbst in die Hand zu nehmen. Dies hat Merkel schon voriges Jahr verkündet, jetzt stimmen auch die anderen zu, um damit "unser solidarisches Gesellschaftsmodell, das sich mit der Sozialen Marktwirtschaft verbindet, zu verteidigen".

Kapitel "Demokratie"

Die europäischen Werte bezüglich Demokratie, Bürgernähe, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz sollen vor allem durch Stärkung des Parlamentarismus auf EU-, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene verteidigt werden.

Kapitel "Wettbewerbsfähigkeit"

Soziale Marktwirtschaft deutscher Prägung soll Impulse für Investitionen und damit Wettbewerbsfähigkeit garantieren: Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung und "faire Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes", strategische Forschungs- und Innovationspolitik sollen die Position Europas auch in der künftigen, durch Digitalisierung geprägten Globalisierung stärken.

Kapitel "Gerechtigkeit"

Chancen für junge Menschen, verstärkte Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, europaweite Austauschprogramme, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Mindestlohnregelungen und nationale Grundsicherungssysteme, Angleichung der Bildungsstandards, bessere Koordinierung der Arbeitsmarktpolitik - all dies soll die Beschäftigungs- und Lebenschancen verbessern. Vermeidung von Steuerdumping und Geldwäsche, die "gerechte Besteuerung großer Konzerne, gerade auch der Internetkonzerne Google, Apple, Facebook und Amazon" werden ebenso beschworen wie die gesellschaftspolitische Verantwortung von Unternehmen. Die Verhandler wollen eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für Körperschaftsteuern, sowie EU-weite Mindestsätze bei Unternehmenssteuern. Gewinne sollen dort besteuert werden, wo sie gemacht werden. Schulzs Handschrift ist auch in der Forderung der Einführung einer "substantiellen Finanztransaktionssteuer" ablesbar.

Kapitel "Globale Verantwortung"

Globale Herausforderungen benötigen laut Verhandlern europäische Antworten, daher auch die "klare Ablehnung von Protektionismus, Isolationismus und Nationalismus". Dennoch kommt auch die Subsidiarität zu ihrem Recht bei der Lösung lokaler Probleme. Europa muss als "Friedensmacht" den Vorrang der Politik vor dem Militärischen verfolgen, soll in der Flüchtlingspolitik seiner humanitären Ausrichtung folgen, jedoch insgesamt Migration besser regeln und vor allem Fluchtursachen bekämpfen. Wichtig wird eine neue Afrika-Strategie sein. Europa soll eine offene und faire Handelspolitik verfolgen, eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz und eine ambitionierte Umsetzung des Pariser Abkommens anstreben, sowie eine gemeinsame Außen- und Menschenrechtspolitik verfolgen.

Quasi-Kapitel "Institutionen"

In einem nicht überschriebenen Institutionenkapitel wollen die Verhandler besonders das EU-Parlament stärken, für ein größeres EU-Budget eintreten und besondere Haushaltsmittel für die Stabilisierung und soziale Konvergenz, sowie für "Strukturreformen in der Eurozone", auch mit deutscher Beteiligung bereitstellen. Interessant ist auch, dass - entgegen bisheriger vehementer deutscher Position - der Europäische Stabilitätsmechanismus weiterentwickelt und in die EU-Strukturen integriert und als Europäischer Währungsfonds im Unionsrecht verankert werden soll. Gemeinsam mit Frankreich will man EU und Eurozone vorantreiben, beschwört die Solidarität der Mitgliedstaaten als Prinzip, die aber auch die Junktimierung von Risiko und Haftung einschließt. Ein neuer Elysee-Vertrag soll die deutsch-französische Führungsrolle in Europa absichern. Mit Frankreich wollen die Verhandler gemeinsame Positionen in wichtigen Fragen der europäischen und internationalen Politik entwickeln und in "Bereichen, in denen die EU mit 27 Mitgliedstaaten nicht handlungsfähig ist, vorangehen".

Erfreulich und erstaunlich ist der große Stellenwert, den die EU in diesen deutschen Sondierungen einnimmt. Das hebt sich positiv von heimischen Regierungsprogrammen der letzten Jahre ab. Erfreulich ist unter diesem Aspekt auch, dass einige überkommene deutsche Zöpfe angeschnitten wurden: dazu gehört vor allem die Bereitschaft, das EU-Budget zu erhöhen, den ESM von einem zwischenstaatlichen zu einem EU-Instrument zu machen, sich verstärkt gegen Steuerkonkurrenz und Steuerdumping mithilfe von Mindeststeuern und verstärkter Bekämpfung von Steuerbetrug einzusetzen, und auch das Gerede von der vermaledeiten "Transferunion" zu vermeiden. Inkonsistent bleibt, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Umweltschutz bei gleichzeitiger Beschwörung der Beibehaltung des derzeitigen Wirtschaftssystems einzufordern, welches eben die auseinanderdriftenden Einkommens- und Vermögensverteilungen, den überbordenden Risikoappetit der Banken, sowie den Klimawandel und Umweltverbrauch hervorgerufen hat. Dass es da grundsätzliche Unvereinbarkeiten gibt, dass die "Machtfrage", also politischer Einfluss am Status quo hängender Gruppen, dafür eine Rolle spielt, wird nicht angesprochen. Der Finanzsektor kommt überhaupt nicht vor. Und zum Schluss: für einen kleinen EU-Mitgliedstaat klingt es schon wie eine Drohung, dass die deutsch-französische Achse hier als (fast) alleiniger Motor des europäischen Fortschritts beschworen wird - und die Miteinbeziehung der anderen 25 nicht einmal angesprochen wird. Dennoch: Bleibt man innerhalb des bestehenden Systems, ist es wohltuend, dass einer Weiterentwicklung der europäischen Integration hier so großer Stellenwert eingeräumt wird. Noch schöner wäre es gewesen, wenn die Verhandler auch eine grundlegende Richtungsänderung in der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der EU einige Gedanken geschenkt hätten.