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Die Selfie-Moral: Jeder ist furchtbar - außer mir!

Von Fabio Witzeling

Gastkommentare
Fabio Witzeling ist Soziologe am Humaninstitut Vienna (Buchtipp: "Wenn der Wind sich dreht: Zeitfenster in eine neue politische Ära", Verlag Frank & Frei). Foto: privat

Die neuen Kommunikationsmittel prägen immer mehr den öffentlichen Diskurs.


Die Sozialen Medien erlauben es uns, so einfach und schnell wie nie Geschichten zu erzählen, Themen zu platzieren und vor allem Meinungen abzugeben. Entsprechend viele beteiligen sich auch an den immer wieder aufbrandenden und abebbenden öffentlichen Debatten. So wären manche Themen ohne Twitter und Co. wohl nie derart prominent auf der medialen Agenda gelandet. Ohne die Beteiligung vieler wäre es fraglich gewesen, ob die MeToo-Kampagne, angestoßen von einem doch relativ kleinen und elitären Kreis an Hollywood-Schauspielerinnen, ihre nun globale und branchenübergreifende Durchschlagskraft erhalten hätte. So prägen die neuen Kommunikationsmittel immer mehr den öffentlichen Diskurs und fachen oft wichtige und möglicherweise sogar nachhaltige Debatten an. Sie entfalten sich als äußerst effizientes Instrument, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Protest zu formulieren.

Doch wie beeinflusst diese neue Effizienz in der öffentlichen Kommunikation die Meinungsbildung? Welchen Effekt haben die neuen beschleunigenden Möglichkeiten der Diskursführung auf das Moralempfinden? Ob MeToo, die Flüchtlingsdebatte oder Donald Trump: Was ins Auge springt ist auch eine undifferenzierte und unreflektierte Empörungslust. In der Dialektik zwischen der Einsamkeit vor dem Rechner und dem Herdentrieb des virtuellen Kollektivs, überlagert regelmäßig der Hang zur Selbstdarstellung und moralischen Selbsterhöhung das jeweilige Anliegen an sich.

Die bereits Ende der 1960er von Arnold Gehlen beschriebene "Hypermoral" erfährt nun eine neue Qualität: Bequem, risikolos und mit dem wohligen Gefühl, einer Gruppe Gleichgesinnter im Kampf gegen alles Böse anzugehören, wartet man nur auf Gelegenheiten, die eigene moralische Überlegenheit im Überhöhungswettstreit der Empörung zu demonstrieren. Man sieht sich in der Tradition von Widerstands- und Freiheitskämpfern, als Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschrittes, über dessen Vektoren es keine Diskussion geben kann.

Doch um wahrlich als der Empörteste unter den Empörten herauszustechen, braucht es eine immer extremere Anwendung der eigenen Gruppenethik. So kann es passieren, dass ein im weitesten Sinne als rassistisch interpretierbares Werbesujet einer Textilhandelskette im Milieu der Betroffenheitsdarsteller für unverhältnismäßig mehr Aufregung sorgt als die fragwürdigen Arbeitsbedingungen in eben diesem Konzern.

Den eigenen Standpunkt reflektieren

Klar: Während die Kritik an Ersterem nur ein billiges Bekenntnis ohne Risiko verlangt (natürlich ist man gegen Rassismus), würde die Thematisierung von Letzteren auch den eigenen Lebensstil (mit dem iPhone bei Starbucks gegen soziale Ungerechtigkeiten twittern) miteinschließen. Gerade deshalb muss man sich selbst und andere durch hohle moralische Übertreibung davon überzeugen, dass genau diese Fragen des bloßen Bekenntnisses die Gretchenfragen unseres Zusammenlebens darstellen.

Differenzierungsversuche fallen in einem solchen medialen Klima dann schnell in die Kategorie der Desertion. Man übernimmt genau jenen intoleranten und exkludierenden Tribalismus, den man doch so inbrünstig bekämpft.

"Bildung", schreibt Peter Sloterdijk, "verlangt die harte Nacherziehung des aufbrausenden Subjekts, das den Wahn aufgeben muss, die Welt schulde ihm ihre Angleichung an seine moralisch überspannten Erwartungen." Sich zurückzunehmen und die psychologischen Bedürfnisse hinter der eigenen als universal angenommenen Moral und Empörung ehrlich zu reflektieren, wäre der Debattenkultur und vor allem den Anliegen selbst zuträglich.