Zum Hauptinhalt springen

Nulltoleranz

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Dort, wo es immer noch Toleranz gibt.


Es gibt ihn also noch - den ungehemmten, bodenlosen Antisemitismus. Ist das überraschend? Da muss man unterscheiden. Denn es gibt zwei Arten von "noch".

Es gibt das kontinuierliche "Noch", das seit Jahrzehnten tradiert wird. Da wird das Ressentiment in einer ununterbrochenen Kette weitergegeben - in Texten, Liedern, Devotionalien, Ritualen. Wenn der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer meint, diese Tradition sei hierzulande tief verankert, dann muss man sagen: tief in jeder Hinsicht. Moralisch. Psychisch. Räumlich. Das ist das, was etwa aus den Buden der Burschenschafter aufgestiegen ist. Das, was jeden Tag neue Sumpfblasen aufwirft. Nein, das ist nicht überraschend. Das hat man gewusst. Das hätte man wissen können. Etwa bevor man damit sehenden Auges eine Koalition eingeht.

Aber da ist auch jenes andere "Noch", das nur auf den ersten Blick ein Noch, eher aber ein "Wieder" ist. Jenes "Noch", das nicht in exzentrischen Subkulturen gepflegt wird, sondern sich an der Oberfläche verbreitet. Jenes, das viele ratlos von der Natur des Menschen, von Nationalcharakter oder von den österreichischen Genen sprechen lässt. Also von etwas, wo Erziehung und Bildung versagt haben, versagen mussten. Etwas präziser ist da vielleicht der Befund, der autoritäre Charakter sei keine Konstante, sondern vielmehr, so Ivan Krastev, eine "psychische Disposition, intolerant zu werden", die durch reale oder imaginäre Bedrohungen aktiviert wird. Das aber ist nicht der nostalgische Antisemitismus der Burschenschafter, der sich nach einer alten "Fülle" sehnt, sondern ein Phantomressentiment, das wie ein Phantomschmerz durch einen Mangel hervorgerufen wird. Dazu reicht schon ein inszeniertes Bedrohungsszenario.

Wenn nun vielerorts der Ruf nach Aufarbeitung, nach Hinschauen, nach öffentlich Machen ertönt, dann ist das klassische Aufklärungsstrategie. Tatsächlich aber ist es heute dringlicher denn je, zwischen Aufklärung und Hegemonie zu unterscheiden.

Herbert Kickl hat in einem Interview sehr klar gesagt: Diese Regierung ist ein offensiver Gegenentwurf zum Projekt der 68er. 68er meint Liberalisierung der Gesellschaft, Toleranz, Aufklärung. Genau dagegen setzen sie ihre neu-rechte Hegemonie, ihre Umwertung - wie etwa bei den Burschenschaftern, die sich aus den Tiefen ihrer Buden ins Zentrum der Macht katapultiert haben. Wir alle müssen dringend lernen, in Hegemoniekategorien zu denken.

Nehmen wir etwa Straches FPÖ-Historikerkommission. Das Argument, diese sei sinnlos, man wüsste ohnehin alles, folgt einer Aufklärungslogik. Aber solch eine Kommission - sollte sie denn ernsthaft zustande kommen - hätte nicht die Aufgabe, Verborgenes ans Licht zu bringen, sondern einen Blick von außen auf die Partei und deren Umfeld zuzulassen. Sie könnte zu einer Neubewertung ihrer Geschichte und Gegenwart führen. Das wäre Hegemonielogik.

Aufklärung alleine reicht nicht aus - es braucht auch hegemoniale Strategien. In diesem Sinne muss man der Regierung ihre eigene Botschaft zurücksenden: Wenn ihr von Nulltoleranz sprechen wollt, dann von Nulltoleranz bei Rassismus. Im Unterschied zu Sexualdelikten gibt es da nämlich tatsächlich Toleranz. Immer noch.