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Eine wechselhafte Geschichte

Von Michael Gehler

Gastkommentare

Die SPD ist mit dem Vereinigungsparteitag von Gotha (1875) und ihren Gründervätern August Bebel und Wilhelm Liebknecht mit rund 150 Jahren die älteste Partei Deutschlands. Alter schützt jedoch vor Torheit nicht. Der Rücktritt von allen Ämtern von Martin Schulz, der gerade vor einem Jahr mit 100 Prozent vom Parteitag zum Kanzlerkandidaten gekürt worden war und zuletzt ein respektables Verhandlungsergebnis für die SPD mit der CDU/CSU erzielte, ist ein Vorgang, für den die Geschichte dieser Partei viele Beispiele kennt.

Erst auf der rechten Seite, dann gegen Hitler und Stalin

Anfang August 1914 bewilligte die von Friedfertigkeit und Internationalismus durchdrungene deutsche Sozialdemokratie im Zuge des Kaiserwortes "Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur noch Deutsche" - was Ende Juli noch als undenkbar galt - die Kriegskredite im Reichstag, die Deutschland am ersten großen Weltenbrand mitwirken ließen. Während des Krieges spaltete sich die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD) 1917 ab, und davon löste sich 1918 noch der parteiunabhängige Spartakusbund unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im Bündnis mit den Freikorps trat die SPD unter Reichswehrminister Gustav Noske gegen die kommunistischen Räterepublikaner an und trug zu deren blutiger Niederlage nach der November-Revolution bei.

Im März 1933 stimmte die SPD unter Wortführung von Otto Wels als einzige Fraktion im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers, büßte dafür umso mehr nach seiner Machtfestigung mit Exil, Haft, Terror und Verfolgung. 1946 erfolgte dann in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Kurt Schumacher, der SPD-Vorsitzende im Westen, schwer gezeichnet vom Ersten Weltkrieg und von der KZ-Haft, sprach nach der Zwangsfusion mit den ostdeutschen Kommunisten von "rotlackierten Faschisten".

Zurück zur Westintegration und mutiger Aufbruch

Schumacher prophezeite zutreffend, dass Konrad Adenauers Politik der Westintegration, zu der er mit Fundamentalopposition auf harten Konfrontationskurs ging, zur Teilung Deutschlands und Europas beitrage. Folglich empfahl er, das Angebot Stalins für ein neutrales Deutschland 1952 zu prüfen. Adenauer wollte jedoch "keine Experimente", gewann 1953 die Wahlen und erhielt 1957 sogar die absolute Mehrheit, was die SPD zwang, sich auch zur bundesdeutschen Westbindung im Godesberger Programm von 1959 zu bekennen.

Willy Brandt trat 1969 als SPD-Chef mit dem Slogan "Mehr Demokratie wagen!" an, gewann die Wahl und bildete mit der FDP unter Walter Scheel erstmals in der Bundesrepublik eine sozialliberale Koalition, deren Ostpolitik beispielgebend wurde. Das Trio Brandt-Schmidt-Wehner konnte sich zwar intern nicht riechen, hielt aber nach außen eisern zusammen. Der intern unnahbare, in der Öffentlichkeit aber publikumswirksame Brandt wurde 1974 durch Günter Guillaume, einen von der DDR-Staatssicherheit im Bundeskanzleramt platzierten Topspion, zu Fall gebracht.

Probleme mit Wirtschaft und Sicherheit - Kohl profitiert

Brandts Nachfolger als deutscher Kanzler wurde der Hanseat Helmut Schmidt, der die Bundesrepublik durch die Wirtschaftskrisen der 1970er führte, geprägt von Konjunktureinbrüchen, Ölpreisschocks und Rezession sowie vom Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). 1982 musste Schmidt aufgrund eines erstmals erfolgreich im Bundestag durchgeführten "konstruktiven Misstrauensvotums" gehen. Die FDP hatte mit dem "Lambsdorff-Papier" (das der Finanzbeamte und spätere Bundesbank-Präsident Hans Tietmeyer konzipiert hatte) aufgrund der zu arbeiternehmerfreundlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik der SPD die Koalition infrage gestellt. Tatsächlich waren Arbeitslosenquote und Budgetdefizit sehr angewachsen.

Doch war die SPD auch wieder an sich selbst gescheitert: Der Anti-Nato-Flügel in der Partei mit Egon Bahr und Erhard Eppler war gegen Schmidts Nachrüstungspolitik. CDU-Chef Helmut Kohl wurde neuer Bundeskanzler, zog den Nato-Doppelbeschluss durch, knüpfte sodann an der Ostpolitik nahtlos an, regierte 16 Jahre lang und profitierte zudem von dem von Schmidt und Frankreichs Präsident Valéry Giscard d’Estaing entwickelten Europäischen Währungssystem (EWS), das die Euro-Einführung vorbereiten half.

Schwierigkeiten mit der Einheit, rot-grünes Experiment

Im Kontext des ostdeutschen Umbruchs 1989/90 drückte Kohl auf eine schnelle Lösung zur Einheit und versprach alsbald "blühende Landschaften". SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine sah das realistischer, stand auf der Bremse und trat gegen eine rasche Vereinigung auf, verlor aber krachend die Wahl 1990. Eine Union der SPD mit der SED-Nachfolgepartei PDS war zuvor nicht zustande gekommen. Die Linke Deutschlands blieb gespalten. Es folgte der gescheiterte SPD-Kanzlerkandidat Rudolf Scharping.

Erst 1998 sollte die SPD wieder mit Gerhard Schröder einen Kanzler stellen, der mit Joschka Fischer ein bisher in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaliges rot-grünes Bündnis schmiedete, dem alsbald der Bruch zwischen Finanzminister Lafontaine und Schröder wegen der Wirtschaftspolitik folgte. Die "Agenda 2010", die Energiewende mit Windrädern, die Homo-Ehe und die Verweigerung der Teilnahme am von der UNO als illegal erklärten Irak-Krieg der USA und Großbritanniens waren Ergebnisse von Rot-Grün. Schröder konnte zwar 2005 in einem spannenden Wahlkampf-Finish fast noch Gleichstand mit Angela Merkels CDU erzielen, war aber schon zuvor am Widerstand der Gewerkschaften aufgrund eines zu wirtschaftsfreundlichen Kurses gescheitert.

Von den Hartz-Reformen auf dem Arbeitsmarkt profitierten in Folge die Christdemokraten, die mit Merkel seither die Kanzlerposition innehaben. Mit Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Martin Schulz folgten nach Schröder drei weitere gescheiterte SPD-Kanzlerkandidaten. Die Frage, wer den Parteivorsitzenden stellen sollte, löste immer wieder heftige parteiinterne Kontroversen aus. Kurt Beck und Franz Müntering können ein Lied davon singen.

Absturz, Postenschacher und Wechsel an der Parteispitze

In der vergangenen großen Koalition unter Merkel war die SPD nicht in der Lage, mit Sigmar Gabriel ihre Teilerfolge beim Wähler anzubringen und erzielte bei den Wahlen im September 2017 das schlechteste Ergebnis mit 20,5 Prozent. Nach der gescheiterten "Jamaika"-Koalition erreichte sie nach längerem Hin- und Her in der Frage einer neuerlichen Regierungsbildung unter Merkel im Jänner ein respektables Ergebnis hinsichtlich der Ressortverteilung. Kaum wurde das Ergebnis bekannt, krachte es wieder wegen der Postenbesetzung. Schulz verkündete vor dem Mitgliederentscheid, dass Andrea Nahles Parteivorsitzende und er Außenminister werde, was die Basis erzürnte und ihn zum Rückzug veranlasste. Inzwischen ist Schulz weder das eine noch das andere.

Lernen aus der Geschichte fiel schwer. Abstimmungsprobleme, Kommunikationsdefizite, Transparenzmängel sowie handwerkliche und strategische Fehler bedingten das historische Dilemma und das jüngste Chaos an der Spitze einer gespaltenen Partei. Hin- und hergerissen in Fragen von Klimaschutz und Kohlekraftwerken, Friedenspolitik und Rüstungsexport sowie Unternehmer- und Kleine-Leute-Interessen kann die SPD-Führung mit Hinterzimmerdiplomatie ohne Einbeziehung der Basis weder kurzfristig reüssieren noch sich mittelfristig nachhaltig erneuern. So ist kaum noch Kraft vorhanden, um zu verwalten, geschweige denn zu gestalten: Das ist freilich keine gute Basis für eine stabile deutsche Politik. Nicht immer, aber oft stand die SPD auf der richtigen Seite der Geschichte. Dabei stand sie sich häufig selbst im Weg.

Die SPD - manisch depressiv? Jedenfalls eine historisch tragische Partei.