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Die wahren Investoren

Von Kurt Bayer

Gastkommentare
Kurt Bayer ist Ökonom. Er war Board Director in Weltbank (Washington) und EBRD (London) sowie Gruppenleiter im Finanzministerium. Er bloggt unter https://kurtbayer.wordpress.com. Foto: apa/Edith Grünwald

Ah, das große Aufatmen: Der Kurssturz der Börsen in den USA, Asien und Europa hat sich in der vergangenen Woche wieder gedreht, Kursanstiege waren wieder zu verzeichnen. In den Medien wurden Vergleiche mit dem Schwarzen Freitag der 1930er Jahre angestellt und verworfen, die Kommentatoren ergingen sich in wagemutigen Erklärungsversuchen, die Politiker atmeten auf, und "die Investoren", die Lenker, die Mover und Shaker des ökonomischen Weltgeschehens, erlitten nur Papierverluste von mehreren Billionen Dollar. War das wirklich alles?

Man hätte glauben können, dass nunmehr endlich einmal die Systemfrage, die Sinnfrage über das Wirken und Unwirken der "Märkte" gestellt würde. Alle sind sich zwar einig, dass der Kurssturz "nichts mit der Wirtschaft zu tun hat, die ja fundamental gut läuft und erstmals seit Jahrzehnten in allen Kontinenten einen Aufschwung erfährt", aber niemand stellt die Funktion, die Exzesse und die Unsinnigkeit dieser Lenkinstitution in Frage.

Dass seit Jahren die Börsengewinne ein Vielfaches der Expansion der Wirtschaften betragen, wird dümmlich als "Beweis" dafür angeführt, dass die Anlage in Aktien eben "profitabel" sei. Das erinnert an die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, als alle kurzfristig plötzlich zu "Keynesianern" wurden, ein halbes Jahr später aber wieder ihr altes neoliberales Lied von den notwendigen "Hausaufgaben" und "Strukturreformen" grölten: Makroökonomie war einmal, die Interessen der "Investoren" gehen vor.

Eine grobe Täuschung

Allein der Begriff "Investoren" ist eine grobe Täuschung: Lange Jahrzehnte verstand man unter "Investoren" Unternehmer, die in Anlagen, Gebäude und Maschinen investierten und damit die Produktionskapazitäten ausweiteten, erneuerten oder neu gestalteten. Die heutigen "Investoren" sind hingegen primär Finanzspekulanten auf der Jagd nach den höchsten Renditen, die aber nur noch auf den Finanzmärkten zu erzielen sind.

Die vom legendären früheren Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, geforderten 15 bis 20 Prozent jährliche Rendite sind in einer Wirtschaft, die real mit maximal 3 Prozent und nominell mit 4 bis 5 Prozent wächst, einfach nicht zu erzielen. Wird eine solche Rendite erzielt, beruht sie auf der Ausbeutung anderer Finanzinvestoren (oft der Einzelanleger) oder der Realwirtschaft. Die Finanzseiten der Zeitungen sind voll von Berichten über die Börsen, "wagemutige Firmenübernahmen" in Milliardenhöhe, volatile Finanzströme, die jeder tatsächlichen oder vermeintlichen Kursdifferenz nachjagen, "traden" und damit das Roulette weiter anfachen.

Die Börsen als die hochgelobten Marktgestalter dieser Transaktionen sind eifersüchtig auf jene Transaktionen, die außerhalb ihrer Finger laufen und gerieren sich als die rationalen Bewerter wirtschaftlicher Vorgänge. De facto sind sie Handelsplätze für Spekulanten, die die Erwartungen organisieren und nur zum geringsten Teil tatsächlich die Kapitalaufbringer für neue Produkte oder Dienstleistungen sind, was eigentlich ihr Ursprungszweck wäre.

Neuerdings pusht die Europäische Union eine "Kapitalmarktunion", eine Abstimmung und Vereinigung der europäischen Kapitalmärkte, um der bisher nicht gelungenen "Bankenunion" mehr Konkurrenz zu machen. Sind anonymisierte Kapitalmärkte, die von elektronischen Kaufs- und Verkaufsalgorithmen getrieben werden, tatsächlich jene Institutionen zur Kapitalaufbringung, die wir in Zukunft wollen? Sollten wir nicht viel lieber der in Europa ohnedies weiter verbreiteten Kapitalaufbringung durch Banken den Vorzug geben, die halt doch die Chance und Möglichkeit haben, den einzelnen Kunden, den einzelnen Kapitalgeber zu durchleuchten, und im besten Fall eine rationale, risikobewusste und auf Analyse realwirtschaftlicher Vorgänge aufbauende Kredit- und Eigenkapitalfinanzierung sicherzustellen?

Banken nicht fallen lassen

Ich weiß natürlich, dass das Verhalten der Banken spätestens seit der letzten Finanzkrise kaum Anlass zu Vertrauen gibt. In den USA und Europa haben Banken Strafen von mehreren hundert Milliarden Dollar für kriminelle Betrügereien an Kunden, Staaten und allen, denen sie Finanzprodukte verkauft haben, ausgefasst. Aber sie deswegen fallen zu lassen und den Finanzmärkten und den renditegierigen Investoren weiterhin das Schicksal unserer Wirtschaften und Gesellschaften zu überlassen, grenzt an Irrsinn.

Treiben wir den Banken durch strenge Regeln ihren Risikoappetit, ihre miserable Gouvernance, ihre kontraproduktive und obszöne Gehalts- und Bonikultur aus, verlangen wir von ihnen Eigenkapitalquoten von 30 Prozent, geben wir ihnen Anreize und Gebote, auch Klein- und Mittelunternehmen und Start-ups zu finanzieren, verteuern wir spekulative Finanztransaktionen - dann könnten wir zu einer Finanzierungsstruktur zurückkehren, die der Realwirtschaft und der Gesellschaft dient.

Warum stellt niemand die Rolle der Börsen in Frage?