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Stalins Erbe

Von Michael Gehler

Gastkommentare

Vor 65 Jahren starb einer der größten Massenmörder der Weltgeschichte.


Am 5. März 1953 atmete die Welt auf, doch es gab auch Menschen, die seinen Tod betrauerten und an seinem Sarg weinten. Er wurde 1878 als Sohn eines verarmten und trunksüchtigen Schumachers in Gori in der rückständigen Provinz Georgien geboren. Der begabte, hochmütige und verschlossene Knabe besuchte eine Klosterschule, studierte in einem Priesterseminar von Tiflis revolutionäre Schriften und schrieb Gedichte auf Georgisch. Er revoltierte gegen die Autoritäten in Schule und Staat. Als Organisator umstürzlerischer Aktionen und Propagandist des Sozialismus fiel er auf. Von einem revolutionären Anarchisten und Verschwörer avancierte er neben Mao Zedong und Adolf Hitler zu einem der mächtigsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts.

Die Rede ist von Jussif Wissarionowitsch Dschugaschwili, der seit 1912 den Kampfnamen Stalin trug, was so viel wie "Der Stählerne" bedeuten sollte. Banküberfälle und Diebstähle führten zu Verhaftung und Gefängnis. Vier Jahre war er im Exil in Sibirien.

Stalins Aufstieg und die Beseitigung Trotzkis

Als Berufsrevolutionär gewann er an Einfluss in der bolschewistischen Partei. Nach dem Revolutionsjahr 1917, in dem er unauffällig blieb, und dem Oktober-Putsch übertrug sie ihm das Amt eines Volkskommissars für Nationalitätenfragen in Russland, das ihn prägen sollte. In der Gefolgschaft Lenins gelang ihm der Aufstieg an die Spitze der Bolschewiki. Als zwei Jahre vor dem Tod Lenins die Gründung der UdSSR 1922 erfolgte, gelangte Stalin als Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU in das innerste Zentrum der Macht.

Lenin warnte vor ihm und sollte recht behalten. Es folgte das Programm des "Sozialismus in einem Lande", das im Gegensatz zur These von der "permanenten (Welt-)Revolution" seines Widersachers Leon Trotzki stand. Dieser war der legendäre Organisator der Roten Armee, die gegen den Westen und seine Interventionskriege in Russland (1918 bis 1920) siegreich geblieben war. Stalin verstand Trotzki jedoch politisch auszuschalten und ins Exil zu treiben. Dort wurde er 1940 auf Geheiß Stalins vom Sowjet-Agenten Ramón Mercader mit einem Eispickel erschlagen. In den 1930er Jahren konnte Stalin seine Macht auf Kosten kollektiver Entscheidungen in Russland festigen. Unter Zuhilfenahme höchst loyaler Bündnisgenossen entmachtete er Rivalen, um dann seine Verbündeten zu beseitigen.

Angst und Schrecken in der Terrorherschaft

Im Zeichen des "Großen Terrors" konsolidierte er sein stalinistisches Herrschaftssystem. Es gab kein Politbüro-Mitglied mehr, das nicht jemanden aus seinem Freundes-, Mitarbeiter- oder Verwandtschaftskreis verlor. Alle lebten in ständiger Furcht vor möglicher Anschuldigung und Bedrohung. Stalins Beschlüsse konnten jetzt immer einstimmig gefasst werden.

Die gezielte Kollektivierung der Landwirtschaft mit der systematischen Ermordung der Großbauern ("Kulaken"), die forcierte Industrialisierung durch Zwangsarbeit, der massenhafte Hungertod der Ukrainer ("Holodomor"), die Liquidierung früherer Kampfgenossen wie Nikolai Bucharin, Genrich Jagoda, Nikolai Jeschow, Sergei Kirow, Karl Radek oder Grigori Sinowjew, die Schauprozesse und Säuberungen ("Tschistka"), der mit dem deutschen Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop geschlossene Nichtangriffspakt - in Wahrheit eine Angriffsvereinbarung mit Hitler zur Aufteilung und Zerschlagung Polens - und der "Große Vaterländische Krieg" gegen Nazi-Deutschland kennzeichneten bis dato die Stationen der Politik Stalins.

Westliche Hilfe für den siegreichen Krieger

Allein der Angriffskrieg Hitlers gegen die Sowjetunion gefährdete für die Jahre 1941 bis 1943 Stalins Machtstellung. Dank unter anderem der logistischen und materiellen Unterstützung durch die USA ging der Generalismus siegreich aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Stalins Triumph auf den Alliierten-Konferenzen der "Großen Drei" in Jalta und Potsdam mit Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt beziehungsweise Harry S. Truman sowie ein unermesslicher Kult um seine Person sind Kennzeichen seiner atemberaubenden politischen Karriere.

Der Sieg über den "Hitler-Faschismus" steigerte Stalins Stellung, die bereits zuvor übermenschliche Dimensionen erreicht hatte, ins Unermessliche. Sowjet-Experten wie Wolfgang Mueller wissen, dass von 1946 bis zu Stalins Ableben zwei ordentliche Versammlungen des Politbüros stattfanden. Die Sowjetunion bis 1953 kannte laut Mueller nur noch "einen Herrn und Meister".

Die Folgen des Stalinismus für Deutschland und Österreich

Mit dem "Eisernen Vorhang" schottete Stalin nach 1945 den Osten gegenüber dem Westen ab. Er führte weitere Schauprozesse gegen Juden, "Titoisten", "Trotzkisten", "Saboteure", "Vaterlandsverräter" und "Zionisten" durch. Mit den USA ließ er sich auf einen gigantischen Rüstungswettlauf ein, den seine Nachfolger fortsetzten und damit den Untergang des Imperiums mitverursachten.

Das Unabhängigkeits- und Souveränitätsstreben nicht-sowjetischer Nationalitäten bekämpfte Stalin mit Bevölkerungstransfers und Zwangsumsiedlungen. Die Nachkriegsgrenzen Osteuropas sind die seinen, was im Haus der europäischen Geschichte in Brüssel deutlich wird. Im Unterschied zu den Sowjet-Republiken sollten die mitteleuropäischen Länder "Volksdemokratien" werden. Der Flucht und Vertreibung der Deutschen, Polen, Ukrainer und Ungarn ließ er freien Lauf.

War er während des Kriegs noch für eine Zerstückelung Deutschlands, so fürchtete er seinen Nationalismus nach 1945 und befürwortete daher ein geeintes Deutschland - allerdings nur unter seinen Bedingungen (allianzfrei, nicht anti-sowjetisch und "volksdemokratisch"). Österreich sollte davon unabhängig sein, quasi ein Abfallprodukt der deutschen Frage, die Priorität für Stalin besaß.

Die unermesslichen Opferzahlen seiner dreißigjährigen Diktatur stehen auf einem ganz anderen Blatt der Weltgeschichte: Die Gesamtzahl ist nicht exakt bezifferbar und bewegt sich in mehrfacher, ja bis zu zweistelliger Millionenhöhe. Seine Opfer starben durch Deportation, Exekution, Internierung oder Zwangsarbeit im Gulag sowie als Kriegsgefangene.

Ein sozialistischer Idealist oder ein skrupelloser Machtmensch?

Das Verhalten Stalins gibt auch Rätsel auf: War er mehr Ideologe oder mehr Realpolitiker? War er gar ein sozialistischer Idealist oder doch nur ein skrupelloser Machtmensch? Viele Historiker wie Jörg Baberowski, Stefan Creuzberger, Robert Payne, Isaac Deutscher, Norman Naimark, Geoffrey Roberts, Adam B. Ulam, Dimitri Wolkogonow oder zuletzt Oleg Chlewnjuk versuchten, das Rätsel zu lösen. Stalins Motive sind so vielfältig wie umstritten: Äußere Bedrohungsängste, Einkreisungsphobien, Fremdenfeindlichkeit, Judenhass, Sendungsbewusstsein für die "gerechte Sache" des Sozialismus, Verfolgungswahn, Vernichtungsfantasien, Verschwörungstheorien oder schlicht die Gier nach totaler Machtausübung. Letzteres scheint am meisten zutreffend.

Der Georgier Lawrenti Berija als Chef aller sowjetischen Geheimdienste ermöglichte als willfähriger Helfer die Massenmorde. Er war so gefährlich und gefürchtet, dass die Sowjet-Regierung unter Georgi Malenkow ihn im Dezember 1953 erschießen ließ. Im Lenin-Mausoleum beigesetzt, wurde Stalins Name im Zuge der "Entstalinisierung" durch einen seiner Nachfolger, Nikita Chruschtschow, beseitigt. Es war wohl die mutigste Tat eines Sowjet-Führers, mit dem Kult Stalins zu brechen und seine Verbrechen beim Namen zu nennen. Als dies auf dem XX. Parteikongress der KPdSU 1956 geschah, sollte noch im selben Jahr im Rahmen des Ungarn-Aufstandes Stalins Kopf von einer 25 Meter hohen und gestürzten Statue in Budapest abgeschlagen werden.

Die Kenntnis dieses Monsters in Menschengestalt bleibt unverzichtbar für das Verständnis des modernen Russlands. Die Folgen seiner Politik wirken bis heute nach. Die Abgrenzung von diesem Diktator ist und bleibt der Gradmesser für einen akzeptablen und glaubwürdigen demokratischen Sozialismus.