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Was ist wirklich wichtig in der Politik?

Von Max Haller

Gastkommentare
Max Haller ist emeritierter Professor für Soziologie der Universität Graz, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Obmann der 2016 gegründeten "Wiener Gesellschaft für Soziologie". Foto: privat

Bei der Frage der Relevanz darf man auch die persönliche Betroffenheit nicht vernachlässigen.


In seinem Leitartikel in der Wochenendausgabe der "Wiener Zeitung" (3./4. März) hat Walter Hämmerle ein Thema aufgegriffen, über das es sich nachzudenken lohnt. Er meint, die Aufregung über die Übernahme eines Managerjobs der ehemaligen Vorsitzenden der Grünen, Eva Glawischnig, beim Glücksspielkonzern Novomatic sei in keiner Weise weltbewegend und zeige wieder einmal, dass Österreicher Unwichtiges nicht von Wichtigem unterscheiden könnten. Wirklich wichtig seien Megathemen wie die Parlamentswahl in Italien, der drohende Handelskrieg zwischen den USA und der EU oder die Urabstimmung der deutschen SPD-Mitglieder über die Regierungsbeteiligung. In der Tat wird niemand bezweifeln, dass dies alles wichtige Fragen sind. Sie betreffen viel größere Länder und daher mehr Menschen, als es ein österreichisches Problem je kann, und sie können auch massive Effekte auf die Weltpolitik, die EU und letztlich auch auf Österreich haben.

Es gibt aber noch einen zweiten Aspekt, unter dem man die Wichtigkeit einer Thematik sehen kann. Dies sind die persönliche Relevanz eines Themas für die Bürgerinnen und Bürger und deren Möglichkeit, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Aus dieser Sicht ist es für mich wichtiger, ob mein Nachbar weiterhin seinen Hund nicht daran hindert, seine Kacke direkt auf dem Gehsteig abzuladen, sodass ich hineintrete und mir am Abend mühsam die Schuhe abputzen muss; ob in meinem Wohnbezirk ein Parkpickerl eingeführt wird, damit ich bei der Suche nach einem Parkplatz nicht mehr eine halbe Stunde herumkurven muss.

Alle diese Dinge kann ich mehr oder weniger direkt mitbestimmen - im Unterschied zu den eingangs genannten Weltproblemen. Meinen unsympathischen Nachbarn kann ich persönlich zur Rede stellen, ich kann meine Mitbewohner im Haus für eine Aktion mobilisieren, ich kann den Magistrat Wien daran erinnern, die Beachtung der Verordnung über die Entsorgung von Hundstrümmerln besser zu kontrollieren. So habe ich auch eine Bürgerversammlung in Simmering besucht, bei der es um das Parkpickerl ging, und noch nie eine Sitzung des neuen Nationalrats, obwohl mich eine solche sehr interessieren würde. Die Menschen in Simmering sehen das wohl ähnlich. So war ich bass erstaunt, dass bei dieser Bürgerversammlung geschätzte tausend (!) Personen teilnahmen (sie musste daher in den wohl größten Saal des Bezirks verlegt werden).

Mehr Berichte über US-Wahlen als über das EU-Parlament

Die Frage, was wichtig und was unwichtig ist, hat auch Implikationen für die öffentliche Diskussion und Berichterstattung. Auch für die österreichischen Medien scheinen "weltbewegende" Ereignisse viel wichtiger zu sein als die kleinen Probleme in Österreich, ja selbst in Europa. So wird hierzulande über die Vorwahlen zu den US-Präsidentenwahlen weit mehr berichtet als über die EU-Wahlen.

Allerdings gibt es auch dafür wieder gute Gründe: Wer Präsident in den USA wird, hat für Europa (und damit auch für Österreich) vielleicht sogar mehr Bedeutung als die Frage, mit welchen Anteilen die verschiedenen Parteien im EU-Parlament vertreten sind. Dass mehr als die Hälfte der Europäer sich an diesen Wahlen nicht beteiligen, mag auch mit der relativen Bedeutungslosigkeit dieser Frage zusammenhängen, da das EU-Parlament (mit guten Gründen) ja ohnehin meist nach einem Konsensprinzip abstimmt und nicht nach dem Mehrheitsprinzip. Aus dieser Sicht wäre es angemessen, wie ich einmal las, dass die Bevölkerung der ganzen Welt an den US-Präsidentenwahlen teilnehmen sollte.

Daher erscheint mir die Entscheidung von Eva Glawischnig, für einen Konzern zu arbeiten, den sie selber noch vor kurzer Zeit vehement angegriffen hat und dessen Haupttätigkeit in klarem Gegensatz zu Prinzipien einer ökologisch-sozial orientierten Partei steht, ein für österreichische Wählerinnen und Wähler enorm wichtiges Problem darzustellen. Für die Anhänger der Grünen stellt es eine massive Enttäuschung dar. Hier kann der Schritt von Glawischnig mit jenem von Peter Pilz in Zusammenhang gebracht werden. Dessen Aktion, die Entscheidung seiner Partei für einen jungen Alternativkandidaten dadurch zu desavouieren, dass er eine neue Partei gründete, führte ja zum größtmöglichen Schaden für die Grünen auf Bundesebene: ihrem Ausschluss aus dem Parlament.

Wasser auf die Mühlen der politischen Gegner

Obwohl man die Leistungen von Pilz in seiner gut zwanzigjährigen politischen Laufbahn nicht hoch genug einschätzen kann, stimme ich dem Journalisten Christian Ortner zu, dass dies einen Verrat bedeutete. Derartige Abspaltungen von Parteigrößen, die in ihrer eigenen Partei nicht mehr zum Zug kommen, sind zweifellos auch einer der Hauptgründe für die politische Instabilität und Misere Italiens. In Österreich wiederum werden auch die Gegner der Grünen Glawischnigs Entscheidung sehr begrüßt haben (und damit ebenso für wichtig halten), da sie indirekt Wasser auf ihre eigenen Mühlen - das heißt: ihre Wählerstimmen - zur Folge haben kann. Glawischnigs Einstieg bei Novomatic hat vermutlich auch den Absturz der Grünen in Kärnten mitbewirkt.

Schließlich ist diese Entscheidung auch für ressentimentbeladene Zeitgenossen wichtig, bestätigt sie ihnen doch, dass auch Grüne trotz hoher ethischer Prinzipien und Skandalfreiheit ihre Meinung um 180 Grad drehen können, wenn sich ihnen materiell gute Chancen eröffnen. In dieser Hinsicht kann Glawischnig wiederum mit Alfred Gusenbauer verglichen werden, dessen Aktivitäten für autoritäre Führer in diversen postkommunistischen Ländern einen Bärendienst für die österreichischen Sozialdemokraten darstellen.