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Die Rolle der Persönlichkeit

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Große Persönlichkeiten schaffen und lenken nicht den Strom der Geschichte, sondern werden von ihm getragen.


Wien. Eine spannende und schwer zu beantwortende Frage, die mich immer schon interessiert hat, ist die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Lange Zeit war eine "personalistische" Geschichtsauffassung dominierend, und zwar dahingehend, dass die Geschichte von großen Persönlichkeiten "gemacht" bzw. "geschrieben" wird: von Kaisern und Generälen, von Päpsten und Revolutionären, von Diktatoren und Demagogen.

Alexander der Große hat von Makedonien aus ein riesiges Weltreich erobert. Warum? Weil er eben "der Große" war. Mohammed hat die arabische Welt revolutioniert, Bismarck das Deutsche Reich geschaffen, Lenin die Revolution zum Ziel geführt und Gandhi die Unabhängigkeit Indiens gewaltlos erkämpft.

"Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?"

Die Frage, welche Voraussetzungen existieren mussten, damit einzelne Persönlichkeiten die Welt verändern konnten, wird kaum gestellt. Allerdings gibt es ein Gedicht von Bert Brecht, in dem solche Fragen zumindest literarisch gestellt werden: "Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Das große Rom ist voll von Triumphbögen. Über wen triumphierten die Cäsaren? Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer siegte außer ihm? So viel Berichte, so viele Fragen."

Eine andere Geschichtsbetrachtung geht davon aus, dass es vor allem ökonomische, soziale und technologische Entwicklungen sind, die die politische Landkarte verändern und dass die "großen Persönlichkeiten" zwar eine wichtige, manchmal auch entscheidende Rolle spielen, aber nur dann, wenn eine Fülle weiterer Voraussetzungen gegeben ist. Sie schaffen und lenken nicht den Strom der Geschichte, sondern werden vom Strom der Geschichte getragen und landen an einer Stelle, von wo aus sie die größte Wirkung erzielen können. Sie sind eindrucksvolle Interpretatoren, entschlossene und begabte Exekutoren und instinktsichere Integrationsfiguren an Wendepunkten der historischen Entwicklung.

Lenin war nicht der "Erfinder" und Schöpfer der russischen Revolution von 1917, sondern die Voraussetzungen für die Revolution haben die Repression und Korruption des Zarismus, die schrecklichen Leiden eines sinnlos erscheinenden Krieges sowie Hunger und Not geschaffen. Diese Faktoren setzten die Massen in Bewegung und Lenin hatte genügend Kraft, Fähigkeiten und politischen Instinkt, um sich an die Spitze dieser Bewegung zu stellen. Aber auch wenn Lenin nicht vom deutschen Generalstab in einem plombierten Eisenbahnwaggon zum entscheidenden Zeitpunkt nach Petersburg befördert worden wäre, hätte sich die russische Revolution meiner Meinung nach unter einem anderen demagogischen Führer ihren Weg in ähnlicher Weise gebahnt.

Unterschiedliche Charaktere und Biografien

Zu diesem Schluss kommt man jedenfalls, wenn man davon überzeugt ist, dass es in einer Gesellschaft als Basis für die handelnden Personen ökonomische, soziale und technologische Faktoren gibt, die die weitere Entwicklung prägen. Es muss also beides geben; objektive Voraussetzungen und den starken subjektiven Faktor der Persönlichkeit.

Gravierende Unterschiede in der Politik zwischen Putin und Trump beruhen zum Beispiel nicht nur auf der Unterschiedlichkeit ihrer Charaktere und ihrer Biografien, sondern liegen auch in den Strukturen und in der gesellschaftlichen Realität ihrer Herrschaftsbereiche. Beide sind mächtig; nicht nur, weil sie an der Spitze großer Länder stehen, die über Atomwaffen verfügen, sondern auch, weil sie starke, gesellschaftliche Gruppen repräsentieren und aus jenen Teilen der Gesellschaft Unterstützung erhalten, deren Interessen sie vertreten. Sowohl Putin als auch Trump versuchen, diese Interessen durchzusetzen, und betrachten das als Dienst an ihrem Land.

Und doch stößt ihre Machtfülle an viele Grenzen. Ich meine nicht nur verfassungsrechtliche Grenzen. Es sind Wirtschaftskrisen, sinkende Realeinkommen, ungelöste gesellschaftliche Konflikte oder Druck von außen, die ihre Wirkung ausüben. Umgekehrt betrachtet bedeutet das, dass die stärkste Stütze in beiden politischen Systemen genügend große, einigermaßen zufriedene Gruppen in der Bevölkerung sind. Dieser Stabilität müssen aber Opfer gebracht werden, die zum Teil in Machtverzicht bestehen. Dabei gilt der Grundsatz: Je demokratischer ein Land ist, desto mehr Machtverzicht an der Spitze der Machtpyramide ist als Konzession an die Demokratie erforderlich, weil Demokratie bedeutet bekanntlich die Beteiligung möglichst vieler an der Ausübung von Macht und die reale Möglichkeit des friedlichen Machtwechsels.

Bei Trump ist deutlich zu erkennen, dass ihm in vielen Beriechen der Machtverzicht sehr schwer fällt und ihm die Gegenmacht der Medien stark zusetzt. In Russland sind die Gewichte anders verteilt: Die Bevölkerung, die noch nie eine längere Periode einer vollentwickelten, pluralistischen Demokratie erlebt hat, scheint hier "großzügiger" zu sein und hat gegen Machtkonzentration weniger Einwendungen. Dennoch hat die Macht an der Spitze in beiden politischen Systemen erkennbare Grenzen, die jedoch nicht unveränderlich starr sind. In den USA kann sich diese Grenze schon bei der nächsten Wahl bemerkbar machen, indem einem Präsidenten die Wiederwahl nicht gelingt, wie das ja in den USA schon öfters der Fall war.

"Machtwechsel nach Spielregeln" in Russland

In Russland ist die Situation komplizierter. Die Führungspersönlichkeiten in den 100 Jahren seit der Oktoberrevolution lassen sich an den Fingern zweier Hände abzählen; allein Stalin hielt seine Diktatur durch 29 Jahre hindurch aufrecht. Bei den Führern Russlands und der Sowjetunion endete ihre Tätigkeit an der Spitze der Machtpyramide nur einmal (Sonderfall Medwedew) durch das Ende einer Funktions- oder Gesetzgebungsperiode. In allen anderen Fällen verstarben sie entweder im Amt (wie Lenin, Stalin, Breschnew etc.) oder wurden abgesetzt.

Da die politischen Systeme global gesehen einander - von Ausnahmen abgesehen - näher kommen, könnte es durchaus sein, dass Putin die erste starke Führungsfigur in der russischen Geschichte ist, die ihre Macht mit dem Ende einer Funktionsperiode freiwillig abgibt. Das wäre ein bemerkenswertes Ereignis, würde aber voraussetzen, dass ein Nachfolger zur Verfügung steht, mit dem ein "Machtwechsel nach Spielregeln" möglich ist.

Zusammenfassend darf man wohl sagen, dass die Rolle großer Persönlichkeiten in der Geschichte von zwei Faktoren geprägt wird: vom weitgehend objektiven Faktor der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung und vom subjektiven Faktor, also der Qualität einer Persönlichkeit, wobei uns die Geschichte Beweise dafür liefert, dass es in unterschiedlichen Phasen der historischen Entwicklung durchaus unterschiedliche Faktoren und Eigenschaften sind, die einer Persönlichkeit an die Spitze der Machtpyramide verhelfen.

Gastkommentar

Heinz
Fischer

wurde 1938 in Graz geboren. Von 2004 bis 2016 war er österreichischer Bundespräsident.