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Die Justiz und die "vierte Gewalt"

Von Sebastian Wiese

Gastkommentare

Die St. Pöltner Freisprüche sind eine Herausforderung für verantwortungsvolle Medien.


Die beiden Angeklagten im Verfahren um eine mögliche Vergewaltigung in Tulln wurden freigesprochen, und Medien, Foren und Soziale Netzwerke stehen kopf. Ursache dieser Aufregung ist wohl auch, dass der Bevölkerung Grundsätze unseres Rechtssystems und der Arbeitsweise unserer Gerichte nicht vertraut sind. An dieser Stelle sind auch die Medien gefragt.

Nicht nur Online-Foren, auch viele Medien, allen voran der Boulevard, kritisieren den Freispruch. Da ist von eindeutigen Beweisen die Rede, von Abwehrverletzungen, DNA-Spuren, glaubwürdigen Aussagen des Opfers und davon, dass die Aussagen der Angeklagten ohnehin nur erlogen sein können. Das Detailwissen ist erstaunlich. Immerhin wurde der Prozess - mit Ausnahme der Eröffnungs- und Schlussplädoyers sowie der Urteilsverkündung - unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Das bedeutet, dass die, die jetzt das Wort führen, Schöffen- und Berufsrichter kritisieren, ihnen Parteilichkeit, Vertuschung (Gutmenschen, eh klar) und Inkompetenz unterstellen, bei der Vernehmung des Opfers und der Angeklagten genauso wenig dabei gewesen sind wie beim sonstigen Beweisverfahren. Ganz im Gegensatz zu den Richtern, die an diesem Beweisverfahren von Anfang bis Ende teilgenommen, Opfer und Angeklagte befragt, Sachverständigengutachten gelesen und auch alle sonstigen Beweise von allen Seiten gewürdigt und sämtliche Informationen gesammelt haben, die es zu diesem zweifellos fatalen Geschehen gibt.

Öffentlichkeit über Grundsätze und Hintergründe informieren

Medien bezeichnen sich gerne als die "vierte Gewalt" im Staat (neben den drei offiziellen Staatsgewalten Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollziehung). Zu Recht! Aber wenn Medien diese Funktion ernst nehmen, dann müssen sie die Öffentlichkeit auch über Grundsätze und Hintergründe zu wichtigen Strafverfahren informieren.

Zum Beispiel darüber, dass dieses Strafverfahren eben nicht öffentlich gewesen ist, dass weder die Medien noch die Öffentlichkeit über alle entscheidungsrelevanten Informationen in dieser Causa verfügen. Dass im nicht öffentlichen Teil der Hauptverhandlung am Dienstag offenbar etwas vorgefallen ist, das schwerer wiegt als alle bekannten Indizien. Dass Ergebnisse des Beweisverfahrens nahelegten, dass die Dinge in jener Aprilnacht vor einem Jahr doch nicht so geschehen sind, wie vom Opfer erzählt und von der Staatsanwaltschaft vorgetragen.

Dass es durchaus Gründe für die Annahme gibt, dass die Angeklagten von Einvernehmlichkeit mit dem Opfer ausgegangen sind - und zwar nicht, weil sie als Asylwerber ohnehin verdächtige "Kulturbereicherer" und pauschal gefährliche Lüstlinge wären, sondern weil Beweisergebnisse dies nahelegen, die auch für die Schöffen- und Berufsrichter - zweifellos nicht "kulturfremd" sondern unserer österreichischen Mehrheitskultur zugehörig - zumindest nachvollziehbar waren.

Dass es aufgrund dieses Ausschlusses der Öffentlichkeit allen Beteiligten - Richtern, Angeklagten und Verteidigerinnen - verboten ist, über die Inhalte dieser Hauptverhandlung die Öffentlichkeit zu informieren. Und dass dies nicht geschieht, um etwas zu vertuschen, sondern aus Gründen des Opferschutzes. Das ist gut so, beschneidet aber die Möglichkeit, die Entscheidung für die Öffentlichkeit noch transparenter zu machen. Es wäre Aufgabe der Medien, in ihrer Berichterstattung auch das zu erklären und so den Rechtsstaat vor Empörung und Diskreditierung durch eine aufgeregte Öffentlichkeit zu schützen - und nicht, wie manche am Boulevardklavier aus reiner Geschäftemacherei diese negativen Emotionen auch noch zu bedienen.

Jeder Angeklagte gilt bis zum Gegenbeweis als unschuldig

Dass es sich bei den Rechtsvertretern der beiden Angeklagten um zwei junge Rechtsanwältinnen handelt, für die dieses Verfahren nicht nur aus fachlichen Gründen sicherlich eine besondere Belastung war. Dass die beiden Verfahrenshelferinnen durch die Rechtsanwaltskammer zugeteilt wurden, dass sie diese Zuteilung nicht ablehnen können und dass sie für ihre - wie man auch am Ergebnis sieht: exzellente - Arbeit kein Honorar erhalten.

Warum diese Information wichtig ist? Weil man dann erkennen könnte, dass Verteidiger nicht - wie der Internet-Mob teilweise unterstellt - aus Geldgier schuldige Monster ihrer gerechten Strafe entziehen, sondern (in diesem Fall sogar unentgeltlich) in unser aller Interesse den Grundsatz verteidigen, dass jeder Angeklagte, selbst bei noch so ungünstiger Beweislage als unschuldig zu gelten hat, bis der Staat in einem sorgfältig geführten Verfahren seine Schuld zweifelsfrei bewiesen hat.

Wenn wir dieses Menschenrecht bei zwei jungen Asylwerbern über Bord werfen, ist der Rechtsstaat kaputt - und zwar für uns alle. Dieses Verständnis könnte unvoreingenommenen Lesern auch das Verstehen dessen erleichtern, was als "Freispruch im Zweifel" so viele empört.

Vertrauen in die Arbeit eines erfahrenen Richters

Eine solcherart verantwortungsvoll geführte Berichterstattung würde vielleicht einigen auch vor Augen führen, wie absurd es ist, sich selbst bessere Urteilsfähigkeit in einer Angelegenheit anzumaßen, über die man nur mittelbar und unvollständig informiert ist, als den Richtern, die sämtliche Verfahrensergebnisse unmittelbar wahrgenommen haben. Immerhin ist der Vorsitzende dieses Schöffensenats ein in Juristenkreisen außerordentlich geschätzter, erfahrener und erkennbar von der richterlichen Verantwortung einer sorgfältigen Wahrheitsfindung getriebener Richter. So jemandem kann man durchaus vertrauen, dass er seine Arbeit gewissenhaft und gerecht erledigt - umso mehr als ihm ein weiterer Berufsrichter und mit zwei Laienrichtern auch Vertreter aus dem Wahlvolk zur Seite standen.

Die Fehlinterpretation der Freisprüche ist übrigens kein Privileg von Populisten und Boulevard. Im "Standard" lese ich, sie seien skandalös. Durch viele Vergewaltigungsverfahren ziehe sich das Problem, dass man Frauen nicht glaube. Aber gerade das sagen die St. Pöltner Freisprüche nicht. Der Schöffensenat hat sich nicht einmal im Ansatz eine Beurteilung darin angemaßt, ob man Frauen, die Vergewaltigungsvorwürfe erheben, trauen könne oder nicht. Er ist nicht einmal zur Erkenntnis gelangt, dass man dieser einen Frau nicht glauben könne.

Ein Urteil, begründet auf reinen Fakten

Die Richter haben ihr Urteil vielmehr damit begründet, dass in diesem konkreten Fall Fakten auf dem Tisch liegen, die alle belastenden Indizien so weit erschüttern, dass diese nicht mehr die für eine Verurteilung notwendige Gewissheit über die Schuld der Angeklagten erzeugen können. Der Freispruch hat nichts damit zu tun, dass man Frauen nicht glaube, sondern damit, dass in solchen Konstellationen oft Aussage gegen Aussage steht. Passen dann andere Beweisergebnisse nicht zur Aussage des Opfers, hat das Gericht einen Freispruch im Zweifel zu fällen. Diese Erfahrung machen übrigens auch männliche Opfer in vergleichbaren Situationen. Die Unschuldsvermutung gilt schließlich unabhängig davon, ob das vermeintliche Opfer männlich oder weiblich ist.

Als Anwalt und Medienkonsument erlebe ich regelmäßig Unverständnis zu fundamentalen Grundsätzen unserer Rechtsordnung. Es führt zu einem Sinken der Akzeptanz gegenüber unseren rechtsstaatlichen Institutionen. Das drückt sich dann auch in Shitstorms aus, die nach unbequemen Urteilen auf die Justiz niedergehen. Wer Bescheid weiß, tut sich leichter, dem Rechtsstaat zu vertrauen. Als Lehrbeauftragter erlebe ich, dass gerade junge Menschen auch aus nichtjuristischen Fachbereichen an diesem Wissen außerordentlich interessiert sind. Und dieses Wissen ist juristischen Laien vermittelbar. Unsere Demokratie ist auch in diesem Punkt auf die Unterstützung der Medien angewiesen.