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Das islamische Europa

Von Ingrid Thurner

Gastkommentare
Ingrid Thurner ist Ethnologin, Publizistin, Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Sie forscht, schreibt und lehrt zu den Themen Mobilitäten, Fremdwahrnehmungen und Anthropologie des Islam.

Im 8. Jahrhundert kamen die ersten Muslime im heutigen Spanien nach Europa. 1300 Jahre später ist ihre Anwesenheit immer noch umstritten.


In der aufgeheizten Stimmung um Europa und den Islam gilt nicht, was Historiker erforschen, sondern welche Ideologie Politiker und Medien vertreten. Als geschichtsvergessen erweist sich der Wunsch, dass nur die Muslime, aber nicht der Islam ein Teil Europas seien.

Die unsägliche Debatte lässt nicht nur den Respekt gegenüber einem Teil der EU-Bevölkerung und ihrem Glauben vermissen, sondern auch das Wissen um die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Artikel 9 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit vorsieht. In Vergessenheit geraten scheint auch das Europa-Motto "in Vielfalt geeint". Zudem weist der Zank auf peinliche historische Wissenslücken zum Islam hin. In keiner Epoche war Europa ausschließlich jüdisch-christlich konzipiert. Einmal mehr, einmal weniger, zeitweise aus der Ferne, zeitweise mittendrin haben Muslime am Aufbau des Kontinents mitgearbeitet. Islam und Muslime sind aus Europas Historie weder wegzudenken noch wegzuargumentieren.

Die Anfänge gehen ins Jahr 711 zurück, als ein arabisch-berberisches Heer unter Tariq ibn Ziyad vom heutigen Marokko aus über den Felsen von Gibraltar (arabisch: gabal tariq = Berg des Tariq) auf die iberische Halbinsel vorstieß und das Westgotenreich eroberte. Damit begann das schillernde Zeitalter von Andalusien. Mehrere Jahrhunderte lang beherrschten Muslime den Süden Europas, neben Spanien und Portugal kurze Zeit auch Sardinien, Sizilien, Süditalien und Kreta.

1492 errang die christliche Rückeroberung mit dem Fall Granadas den letzten großen Sieg, Muslime und Juden wurden vertrieben. Viele gelangten auch auf den Balkan. Dort lagen Kerngebiete des Osmanischen Reiches, das lange eine gemeinsame Grenze mit Österreich-Ungarn hatte. Auch die Habsburger geboten über muslimische Untertanen, die meisten von ihnen lebten in Bosnien. Und im Zweiten Weltkrieg kämpften Muslime für die Nazis und - noch wichtiger - auch für die Alliierten.

Bis heute hält sich auf dem Balkan ein muslimischer Bevölkerungsanteil, zieren Moscheen, Schulen, Bäder und Brücken aus jenen Zeiten osteuropäische Stadtbilder.

Türkisch-islamische Einflüsse sind präsent in Architektur (übrigens auch in Wien), Kunst, Musik, Küche, Trachten, Landwirtschaft, Handwerk und Technik, Sprache, Gestik und Umgangsformen. In offiziellen Geschichtsschreibungen Ost- und Südosteuropas wird die osmanische Epoche entweder als finstere Zeit von Krieg, Zerstörung und Sklaverei verteufelt oder ganz ausgeblendet (so haben die Kuratoren im Nationalhistorischen Museum in Sofia, der wichtigsten Erinnerungsstätte zur bulgarischen Identität, fünf Jahrhunderte einfach ausradiert).

Es wäre an der Zeit, europäische Geschichtsbilder - und damit auch die dahinterliegende Erinnerungspolitik - zu überprüfen. Statt tradierte Feindbilder zu pflegen, könnte man aus der Historie lernen, das kollektive Gedächtnis entrümpeln, veraltete Mythen entsorgen. In einer globalisierten Welt müssen alle beginnen, einstige Gegner zu respektieren, sonst werden die Kriege nie aufhören. Statt das Trennende immer wieder neu aufzurollen, könnte man das Gemeinsame hervorholen und wechselseitige kulturelle Befruchtungen in den Vordergrund rücken.