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Den Funken entzünden

Von Karl Pangerl

Gastkommentare

Angesichts des Paradigmenwechsels im Zeitalter der Digitalisierung sollte Europa seine Vielfalt als Chance nutzen.


Ein vielfach wechselwirkendes Bündel an Entdeckungen hat einst mit der Renaissance den Übergang zur Neuzeit eingeleitet. Die Impulse strahlten aus von Astronomie, Geografie, Ökonomie, Waffentechnik und Buchdruck bis hin zu einem geänderten Verständnis von Zeit und zum revolutionären Bild vom Menschen in transzendentaler Aufgehobenheit bei gleichzeitig hochästhetisch-erotischer Körperlichkeit. Vor einer ganz ähnlichen Situation stehen wir heute.

Was bisher als Herausforderung interpretiert wurde, erweist sich im historischen Vergleich als Leitlinien, entlang derer sich in den nächsten Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten unsere Entwicklung vollziehen wird: Astrophysik und Biotechnologie erweitern den Erkenntnishorizont über die natürliche Sinneswahrnehmung hinaus. Klimawandel und Artensterben, Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit zwingen zur Entkoppelung von Glück, Wohlstand und Wachstum. Die ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Dimensionen der Globalisierung verlangen nach einer Synthese von Lokal und Global, von Heimat und neuer Weltordnung.

Die Digitalisierung mit ihrer Verpixelung und interaktiven Neukonfiguration vermeintlicher Entitäten konfrontiert uns mit der Frage nach unserer Identität als Menschen und Gemeinschaften und jenen Grenzen, deren Ziehung wir als freie Bürger von der Politik zur Wahrung unserer Privatsphäre erwarten dürfen; sie stellt Weltbild und Bildungskanon auf den Prüfstand. Und im binären Zahlencode dämmert erneut ein gewandeltes Bild von Zeit herauf, die in der Zauberwelt verschränkter Teilchen sogar in einen gemeinsamen Augenblick zusammenfällt.

Vor diesem Hintergrund mutet vieles, was effektheischend die Schlagzeilen dominiert, als Tanz auf der "Titanic" an: die Blasen der Finanzmärkte, der populistische Opferkult, die künstliche Beschwörung von Krisen, die Selbstauslieferung an jeden noch so kleinen Fortschritt, Überwachungswahn als Politikersatz, Imponiergehabe und Machtpolitik statt Dialog in Respekt, sinnloses Dahinschlachten Tausender für Fragen einer untergehenden Zeit.

Mit der Erschließung der Erde bis in ihre letzten Winkel haben wir die Neuzeit hinter uns gelassen. Wieder einmal in seiner an Amplituden reichen Geschichte muss sich der Mensch neu erfinden - als spirituelles, geistiges, soziales und verantwortendes Wesen. Es ist dies ein gemeinsames Projekt von Religion, Wissenschaft, Philosophie, Wirtschaft, Kunst, Politik. Hier wird die Vielfalt Europas zur Chance, all diese Kräfte zu bündeln und jenseits lediglich kurzfristig tragfähiger Interessen jenen Funken zu zünden, der uns mit Zuversicht und kreativer Schaffensfreude in diese neue Ära gehen lässt.

Karl Pangerl ist BHS-Lehrer in Oberösterreich, Unesco-Schulreferent und Mitglied des Europa-Forums Alpbach.