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Nulldefizit auf Kosten der Machtlosen?

Von Max Haller

Gastkommentare

Das Budget 2019 aus der Sicht der Finanzsoziologie.


Der Ökonom Joseph Schumpeter schrieb 1918: "Die öffentlichen Finanzen sind einer der besten Ausgangspunkte für eine Untersuchung der Gesellschaft, und zwar besonders dann, wenn man deren politisches Leben miteinbeziehen will." Diese Aussage wurde von seinem Zeitgenossen Rudolf Goldscheid konkretisiert in der Idee einer neuen wissenschaftlichen Disziplin, der Finanzsoziologie. Wenn man von dieser Perspektive ausgeht, eröffnen sich interessante Einsichten zur Beurteilung des Budgets, das Finanzminister Hartwig Löger jüngst präsentiert hat.

Zu diesem Budget gab es zahlreiche Kommentare. Während Löger selbst mit Stolz darauf verwies, dass es ein Nulldefizit geben werde, monierten Ökonomen, er lege einen zu geringen Schwerpunkt auf Zukunftsausgaben; Oppositionsparteien und Sozialverbände kritisierten, dass vor allem auf Kosten der sozial Schwachen gespart werde.

Dies sind alles wichtige Aspekte. Praktisch nicht thematisiert wurde jedoch die finanzsoziologische Frage, welche gesellschaftlichen Gruppeninteressen in den Schwerpunkten eines Budgets zum Ausdruck kommen. Diese Fragestellung wurde im Rahmen eines Symposiums der Oesterreichischen Nationalbank im Jahr 2016 ausführlich diskutiert und in einem Buch dokumentiert.

Starke Pensionisten, Organisationen und Reiche

Ein zentraler Aspekt für die Ausschüttung des staatlichen Füllhorns auf unterschiedliche soziale Gruppen ist deren gesellschaftlich-politischer Einfluss. Die Qualität eines Budgets kann man auch daran messen, inwieweit es ihm gelingt, unabhängig von der Stärke dieser Gruppen allgemein anerkannte Ziele durchzusetzen. Man kann zumindest fünf Formen von Einfluss und Macht unterscheiden:

Numerische Macht ist dann gegeben, wenn eine Gruppe sehr viele Menschen umfasst, die als Wähler ins Gewicht fallen. Hier sind vor allem Pensionisten und Rentner zu nennen, die bei dieser Wahl mehr als zwei Millionen Menschen (gut ein Drittel aller Wahlberechtigten) ausmachten. Da diese Gruppe auch über starke Verbände und eloquente, politisch erfahrene Obleute verfügt, kann man sie ohne Zweifel als die politisch mit Abstand einflussreichste Gruppe in Österreich bezeichnen.

Gruppen mit Organisationsmacht sind jene, die in einflussreichen Verbänden organisiert sind. Hierunter fallen gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, aber auch Selbständige, Unternehmer und Bauern. Die organisierten Arbeitnehmer haben in einer bürgerlichen Regierung weniger Einfluss als in einer mit sozialdemokratischer Beteiligung.

Ökonomisch-finanziell mächtig sind Gruppen, die Parteien und deren Zielsetzungen durch direkte und indirekte finanzielle Zuwendungen unterstützen können, wie Großindustrielle und Wohlhabende mit Kapitaleinkünften.

Artikulations- und Definitionsmacht haben Gruppen, die ihre Interessen klar ausformulieren und in der Politik zur Sprache bringen können. Hierunter fallen etwa Behinderte, deren Probleme offenkundig sind und die auch gut organisiert sind, aber auch Wissenschafter und Kunstschaffende, die vom Staat zwar vielfach an kurzer Leine gehalten werden, jedoch über einen gewissen Einfluss durch die sogenannten Qualitätsmedien verfügen.

Über kollektive Protestmacht schließlich verfügen Gruppen, die durch gezielte Aktionen auf sich aufmerksam machen können, wie Piloten oder Lokführer durch Streiks, und Studierende, die gut vernetzt sind und Zeit für Demonstrationen haben.

Schwache Kinder, Jugendliche, Arbeitslose und Ausländer

Politisch schwach sind all jene Gruppen, die über keine dieser Trumpfkarten verfügen. Das sind vor allem nicht-wahlberechtigte Kinder und Jugendliche, Arbeitslose und Ausländer. Keine dieser Gruppen hat starke Interessenverbände; Kinder und Jugendliche haben allerdings über ihre Eltern eine indirekte Vertretung, Ausländer verfügen weder über Wahlrecht noch Verbände.

Wo liegen die Einsparungen der Ausgaben, die der Finanzminister vorgesehen hat, die Schwerpunkte der Ausgaben überhaupt? Es dürfte wohl eindeutig nicht nur der demografischen Stärke der Pensionisten und Rentner geschuldet sein, dass hier der mit Abstand größte Budgetposten vorliegt und keine wesentlichen Einsparungen vorgesehen wurden. Die Zuschüsse zur Pensionsversicherung sowie die Beamtenpensionen betragen zusammen fast 19 Milliarden Euro, gut ein Viertel der insgesamt 78 Milliarden Euro.

Hier hätte der Finanzminister das allergrößte Sparpotenzial vorgefunden, und es wäre - laut übereinstimmender Meinung aller Experten - auch höchst notwendig. Mit einem faktischen Pensionsantrittsalter von 59 Jahren bei Frauen und 61 Jahren bei Männern liegt Österreich im untersten Viertel in der OECD. Die Schere zwischen gestiegener Lebenserwartung und gleichbleibendem Pensionsantrittsalter ist kaum anderswo so hoch. Dies ist auch ein Problem der sozialen Chancen und Gerechtigkeit. Für viele Menschen stellt das fixe Pensionsantrittsalter einen unerwünschten Zwang dar; für Frauen ist das niedrigere Pensionsantrittsalter mit ein Grund für die wirtschaftliche Diskriminierung im Alter.

Eine durchschnittliche ASVG-Pension betrug im Vorjahr 1211 Euro, jene eines Beamten rund 3700 Euro. Frühere Regierungen, wie jene von Wolfgang Schüssel (2000 bis 2003), haben dieses Problem erkannt und erste Schritte zu seiner Lösung gesetzt. Unbestritten ist aber, dass hier weitere, effektive Maßnahmen notwendig sind (nicht nur Kleinigkeiten wie die Erhöhung des Antrittsalters für Altersteilzeit). Es wäre natürlich unfair, von der Regierung radikale Maßnahmen zu verlangen, etwa die generelle Hinaufsetzung des Pensionsalters auf 67 Jahre wie in Deutschland. Aber allein schon die Erhöhung des faktischen Pensionsantrittsalters um ein Jahr könnte mehr als eine Milliarde Euro Einsparungen mit sich bringen.

Wo gibt die Regierung mehr aus? Hier sind die Bereiche Pflege, Jugend und Familie, Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie Sicherheit zu nennen. Für Familien wurde eine Maßnahme gesetzt (steuerlicher Absetzbetrag bis 1500 Euro pro Kind), jedoch kommt diese nur jenen mit mittleren oder höheren Einkommen zugute. Dem gegenüber zu stellen ist die Begrenzung von Neuaufnahmen im öffentlichen Dienst. Diese betrifft die unorganisierte Gruppe der jugendlichen Arbeitssuchenden - unter denen der Anteil der Jungakademiker steigt -, während festangestellte Beamte von Sparmaßnahmen verschont bleiben.

Mehr Geld für Pflege und Bildung, noch mehr für Polizei

Mehrausgaben für den Bereich Pflege erzwingt schon die demografische Entwicklung; und höhere Budgets für Bildung, Wissenschaft und Forschung kann man als Zukunftsausgaben durchaus positiv sehen. Man sollte aber nicht übersehen, dass dies auch die Interessen lautstarker Gruppen sind. Dies erklärt, warum etwa das heiße Eisen Studiengebühren nicht angerührt wird, obwohl diese erhebliche Einnahmen und Steuerungseffekte mit sich brächten und die Gleichheit der Bildungschancen praktisch nicht tangiert würde. Insgesamt bleiben die geplanten Mehrausgaben in diesem Bereich jedoch in einem vergleichsweise bescheidenen Rahmen.

Klar steigend sind dagegen die Ausgaben für Sicherheit: um eine ganze Milliarde Euro 2018/19 (davon 700 Millionen Euro für die Aufstockung der Polizei, 250 Millionen Euro für die Terrorbekämpfung). Von diesen Ausgaben profitiert theoretisch natürlich die gesamte Bevölkerung. Konfrontiert man ihre Zunahme jedoch mit der Entwicklung der Gesamtkriminalität, so ist man erstaunt: 2008 gab es 570.952 Anzeigen, 2009 sogar 589.961, seither deutlich weniger: 2017 waren es nur noch 510.536 Anzeigen. Zugleich ist der Anteil der aufgeklärten Fälle von 2008 bis 2017 von 38,2 auf 50,1 Prozent gestiegen. Die Mehrausgaben für Polizei werden daher wohl vor allem auf ein hohes Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung zurückzuführen sein - ein Erfolg einflussreicher Boulevardmedien sowie der beiden Regierungsparteien, die nun das Justiz- und das Innenministerium innehaben.

Einsparungen bei Asylwerbern, Integration und Arbeitslosen

Eingespart wird einerseits bei den Ausgaben für Asyl und Migration (mit 420 Millionen Euro schon an sich kein sehr großer Posten) sowie bei der Integrationsförderung von Asylbewerbern und Zuwanderern und bei Maßnahmen zur schulischen Integration von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache; andererseits bei den Arbeitsmarktförderungen für Arbeitslose sowie bei Arbeitslosengeld und Notstandshilfe durch ein neues, reduziertes Modell der Mindestsicherung. All diese Einsparungen treffen vor allem jene drei Gruppen mit wenig politischem Einfluss. Dabei wäre anzumerken, dass Ausgaben für die Integration von Zuwanderern auch wichtige Zukunftsausgaben darstellen: Der Großteil der jüngst nach Österreich eingewanderten Flüchtlinge sind junge Menschen.

Indiziert nun das Budget eine Trendwende vom Schuldenmachen hin zu einer sparsamen und zukunftsorientierten Gestaltung des Staatshaushalts? Der Finanzminister hat zur Untermauerung dieses Arguments auch darauf verwiesen, es werde "im System", in der Verwaltung, gespart. Konkrete Zahlen dazu gab es nicht, und man wird hier wohl sehr skeptisch sein müssen.

Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Hauptfaktoren für die an sich erfreuliche Trendwende beim Budget die gute Konjunktur und die automatisch steigende Progression bei den Steuern sind. Besonders relevant hierbei: Die höchsten Einnahmen, 28,3 Milliarden Euro, erbringt die regressiv wirkende Mehrwertsteuer, die Bezieher niedrigerer Einkommen stärker belastet als jene höherer Einkommen. Wenn man Populismus einfach, aber treffend definiert als "eine Politik, die mit scheinbar einfachen Lösungen die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen versucht", so müsste man die Prioritäten dieses Budgets wohl eher dieser Rubrik zuordnen.