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Recht und Moral im Grenzbereich

Von Peter Hilpold

Gastkommentare

Der nun aufgedeckte Vorfall auf dem Golan im Jahr 2012 wirft juristische Fragen auf.


Der Vorfall auf dem Golan vom 29. September 2012, bei dem neun syrische Sicherheitskräfte den Tod fanden, ist nun zu einem internationalen Diskussionsthema geworden, das die Frage der Verantwortlichkeit auf allen Ebenen anspricht: der völkerrechtlichen, der nationalen und nicht zuletzt der menschlich-moralischen.

Viele Details dieses Vorfalls sind noch unklar, aber schon ist eine Welle der Entrüstung losgebrochen - zu dramatisch und auf den ersten Blick zu eindeutig sind die übermittelten Bilder und die mitgelieferte Tonspur, die als Ausdruck von Zynismus gepaart mit fehlender sprachlicher und ethischer Bildung interpretiert werden. Wurde hier sehenden Auges der Tod von neun Menschen in Kauf genommen, der problemlos hätte verhindert werden können, ja müssen?

Bei allen Fehlern, die hier wohl geschehen sind, wäre es aber verfehlt, den Stab über diese Burschen zu brechen, ohne das Gesamtbild im Auge zu haben.

Ein völlig ungenügendes UN-Mandat für die Blauhelme

Da wäre einmal das völlig ungenügende UN-Mandat für den Blauhelm-Einsatz auf dem Golan zu erwähnen. Das Mandat aus dem Jahr 1974 war in einer völlig unterschiedlichen geopolitischen Situation erteilt worden, einer Situation, in der Syrien und Israel einander als Konfliktgegner gegenüberstanden und zu trennen waren. "Beobachten und melden" war in einer solchen Situation relativ klarer Positionen ausreichend für die Eindämmung des Konflikts. Der aktuelle Bürgerkrieg in Syrien, der bereits 2012 in vollem Gange war, wird befeuert von weltweiten Interventionen. Syrien ist zu einem Tummelplatz von Heeren und Söldnern geworden, der an Deutschland im Dreißigjährigen Krieg erinnert.

Der Auftrag, in einer solchen Bürgerkriegssituation "zu melden", gewinnt eine völlig neue Konnotation. Sollte diese Meldung an die Bürgerkriegsparteien erfolgen, so wäre das UN-Mandat damit überschritten. Die Rechtsgrundlage dafür kann im humanitären Völkerrecht gefunden werden, an das auch die Blauhelme gebunden sind. Und selbst wenn das Vorliegen einer spezifischen Regelung bestritten wird, so ist immer noch auf den überragenden Grundsatz der Menschlichkeit zu rekurrieren, dem im humanitären Völkerrecht gewohnheitsrechtliche Bindungskraft zukommt.

Was wäre gewesen, hätte es sich um Regimegegner gehandelt?

Zurück zur konkreten Problemlage: Die angeblichen Schmuggler, die diesen Hinterhalt aufgebaut hatten, waren gewiss keine Zigarettenschmuggler, was allein schon ihre kaltblütige Professionalität im Waffeneinsatz belegt. Wie wäre die Sachlage zu beurteilen gewesen, wenn es sich hierbei um aufständische Regimegegner gehandelt hätte? Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass gerade der Westen die Aufständischen oder zumindest Teile davon aktiv unterstützt hat, was bis hin zu (völkerrechtswidrigen) Militärinterventionen an ihrer Seite gereicht hat.

Man stelle sich die Schlagzeilen vor, wenn ein österreichischer Wachposten auf dem Golan mandatsüberschreitend eine Position von "Aufständischen" an das Regime in Damaskus verraten hätte, woraufhin dieses Kommando ausgeschaltet worden wäre. Die politischen und völkerrechtlichen Konsequenzen für Österreich wären enorm gewesen.

Überforderte junge Soldaten in einer Extremsituation

Das Schlimme an dieser Situation ist, dass all diesen Überlegungen keinen Entschuldigungsgrund darstellen, weshalb hier wohl ein breiteres Dilemma vorliegt. Es werden hier die Grenzen des Rechts der Verantwortlichkeit deutlich, wenn ein paar völlig überforderte Burschen zur Rechenschaft gezogen werden sollen, wobei gleichzeitig ein Blauhelm-Mandat aufrechterhalten wurde, das der neuen Gefährdungslage nicht mehr nachkommen konnte, wenn der UN-Truppe die notwendigsten Mittel für die Selbstverteidigung vorenthalten wurden und niemand der Frage nachgeht, woher das Mörderkommando die Waffen sowie die Informationen über den Einsatz der syrischen Polizeipatrouille bezogen hat.

Ja, die betreffenden Soldaten hätten wahrscheinlich mehr tun müssen: Die syrischen Polizeikräfte an der Weiterfahrt hindern, sie im Detail auf die gegebene Gefahr aufmerksam machen und nötigenfalls sich sogar über den Befehl des Kommandanten hinwegsetzen, wenn dieser - wie angedeutet wird - ein Handeln untersagt haben sollte. Wie realistisch ist eine solche Forderung gegenüber ein paar jungen Soldaten in einer Extremsituation, die offenkundig völlig auf sich allein gestellt waren und denen gegenüber verschiedene Kommentatoren angesichts von Ausdruck und Wortwahl in der mitgelieferten Tonspur nicht müde wurden, entsetzt breite Bildungsdefizite vorzuwerfen?

Die moralische Verantwortung der (Nicht-)Handelnden

Es bleibt auf jeden Fall die moralische Verantwortung der (Nicht-)
Handelnden. Dass diese den Betreffenden sehr bewusst ist und jeden Tag an ihnen nagt, dürfte allein schon der Umstand belegen, dass dieses Video angefertigt und schließlich auch verbreitet worden ist. Es ist gut denkbar, dass darin ein Versuch gesehen werden kann, mit einer Verantwortung zurechtzukommen, die für die Betreffenden viel zu groß ist.

Die noch viel größere Verantwortung am fortbestehenden Syrien-Konflikt mit vielen tausend Toten wird hingegen wahrscheinlich nie im Detail aufgearbeitet werden und insbesondere nicht auf eine individuelle Verantwortlichkeit herabgebrochen werden können. Diese Grenzen des Rechts und der Moral sollten ebenfalls und noch viel mehr verstören.