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Der Ast, auf dem wir sitzen

Von Sabine M. Fischer

Gastkommentare
Sabine M. Fischer, Inhaberin von Symfony Consulting (www.symfony.at), ist Human-Resources-Unternehmensberaterin mit den Schwerpunkten Handel und Bildung.

Je weniger Familien ein Grundwissen über die großen europäischen Erzählungen haben, desto mehr muss es über den Staat verbreitert werden.


Nathan der Weise also. Jene Idealfigur der Aufklärung, die für Toleranz der Religionen steht, bestrebt, die Welt der Menschen zu einer gewaltfreien friedlich prosperierenden zu machen, als Maturafrage. Bestens geeignet, im Reifeprüfungsprozess Orientierung zu geben - über den Entwicklungsstand des Prüflings und für das individuelle Leben.

Welche Note würden Sie für die Beantwortung der Frage ausschließlich mit dem Nacherzählen der Fakten - ein Ring, drei Söhne etc. - geben? Wenn es keine Erläuterung der Symbolik gäbe und kein Wissen über die Erzählform Parabel? Was kann der Kandidat mit diesem Kenntnisstand für sein Zusammenleben mit anderen mitnehmen?

"Eine der anerkannten Aufgaben von Schule besteht darin, junge Menschen anzuleiten, die Symbole ihrer Kultur zu interpretieren", stellte Neil Postman 1985 fest. 33 Jahre später erkennt man bestürzt, dass auch dies im heimischen Bildungssystem nicht ausreichend vermittelt wird:

Die Symbolik der europäischen Kultur, die sie prägenden Philosophien, Religionen und die darauf basierenden künstlerischen Ausdrucksformen werden vielfach nicht mehr gelehrt und daher häufig nicht erkannt. Verloren geht damit der Halt, der Rahmen, aus dem heraus der Einzelne und eine Gesellschaft miteinander und mit anderen Gesellschaften Formen der Kooperation und des Zusammenlebens ausverhandeln und gestalten.

Mit dem Wissen um lange entwickelte Kultursymbolik bleibt uns allen nur das Archaische, abgespeichert im Stammhirn, und in seinen Reaktionsmustern beschränkt auf Flucht oder Angriff, Daumen rauf oder Daumen runter. "Die Menschen in ‚Schöne neue Welt‘", so Postman, "leiden nicht daran, dass sie lachen, statt nachzudenken, sondern daran, dass sie nicht wissen, worüber sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken."

Nathan der Weise ist das personifizierte Vernunftdenken: das genaue Hinschauen, das Abwägen von Pro und Contra und alles geleitet von einer positiv-entwicklungsfördernden Grundhaltung. Bestürzend ist der Umstand, dass einer, der die besten Schulen dieser Denkhaltung absolviert hat und bestechend logische Reden halten kann, Boris Johnson, es erstrebenswert findet, Brexit-Verhandlungserfolge durch absichtlich herbeigeführtes Chaos zu erzielen. Bestürzend ist, dass das Einspeisen ausgewogener Daten in Algorithmen - Grundvoraussetzung für eine friedliche, positiv gestimmte Gesellschaft - nicht vorgegeben und geprüft wird, wie es Corinna Milborn und Markus Breitenecker in ihrer Analyse der Funktionsweisen von Social-Media-Netzwerken nachgewiesen haben.

Was hat die Mehrzahl der Menschen, was hat unsere Gesellschaft diesen Entwicklungen entgegenzustellen? Bildung spielt hier die entscheidende Rolle: Je weniger Familien ein Grundwissen über die großen europäischen Erzählungen haben, desto mehr muss es über den Staat verbreitert werden. Es gibt genügend pädagogische Konzepte, um in allen Bildungsinstitutionen nicht nur Fakten, sondern auch deren Deutung zu vermitteln. Es ist höchste Zeit, endlich die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, bevor der Ast des Sehnsuchtlandes Europa, auf dem wir sitzen, bricht.