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"Österreich und Europa im nationalistischen Gegenwind?"

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Österreich wird in wenigen Tagen zum dritten Mal seit unserem Beitritt zur Europäischen Union turnusmäßig den EU-Vorsitz übernehmen. Zum ersten Mal war das 1998 zur Zeit der Regierung Klima-Schüssel der Fall.


Wien. Unsere drei Vorsitzperioden liegen also 20 Jahre auseinander und es ist faszinierend, wie viel sich in diesen 20 Jahren verändert hat. Die globale Machtverteilung zwischen USA, Europa, China und Russland hat sich deutlich verschoben.

Die Digitalisierung hat in diesen 20 Jahren nicht nur die Wirtschaft und die Produktionsprozesse, sondern buchstäblich unser Leben verändert. Die USA haben sich im Verhältnis zu Europa von einem festen Anker und verlässlichen Freund zu einem wenig berechenbaren Kontrahenten entwickelt. China hat in dieser Zeit sein Bruttonationalprodukt mehr als versechsfacht, die Beziehungen zwischen Europa und Russland sind aus beiderseitigem Verschulden schlechter geworden. Die Arabische Welt hat sich grundlegend verändert etc., etc. Also massive Veränderungen in großer Zahl, die bei vielen Menschen Sorgen, Ängste und ein Bedürfnis nach Sicherheit in den eigenen vier Wänden bzw. innerhalb sicherer Grenzen auslösen. Genau das hat mit einer Veränderung zu tun, die sich in ganz Europa unübersehbar auswirkt, nämlich einem anwachsenden Nationalismus, weniger Weltoffenheit und weniger Pluralismus; und das, obwohl der Nationalismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts so schreckliches Unheil angerichtet hat. Aber es nützt nichts. Der neue Nationalismus bläst der Demokratie, den Menschenrechten, den europäischen Grundwerten und dem Konzept einer immer enger werdenden europäischen Zusammenarbeit ins Gesicht. Er macht sich auch in Österreich deutlich bemerkbar.

Dabei muss man klar unterscheiden zwischen Patriotismus, den ich schätze, weil er Wertschätzung und Begeisterung für das eigene Land und die eigene Kultur ausdrückt, und Nationalismus, den ich für verhängnisvoll halte, weil die Wertschätzung für das eigene Land und die eigene Kultur mit Herabsetzung, ja sogar Ablehnung und Geringschätzung anderer Länder und Kulturen verknüpft wird und am laufenden Band Feindbilder produziert.

Je mehr Mitglieder, destokleiner der Einfluss

Die Gründungsidee der EU war die Schaffung einer Gruppe von "like minded countries", die so enge Beziehungen zueinander haben, die in so vielfältiger Weise zusammenwachsen, dass Krieg und Gewalt zwischen diesen Staaten de facto unmöglich wird. Die Interessen dieser Staaten lagen so nahe beisammen, dass man sich in wichtigen Gremien über weite Strecken das vertrauensbildende Einstimmigkeitsprinzip leisten konnte und wollte. Vernünftige Kompromisse waren erzielbar und machten das Mehrheitsprinzip nicht erforderlich. Jedes zusätzliche Mitglied machte aber die Anwendung der für die Anfangsphase des Integrationsprozesses bestens geeigneten Strukturen, einschließlich des Einstimmigkeitsprinzips ein kleines bisschen schwieriger. Es ist nicht zu leugnen: Je größer die Mitgliederzahl eines Gremiums, umso kleiner wird - was sich aus den Regeln der Mathematik ergibt - der Einfluss des einzelnen Mitglieds. Mit sinkendem Einfluss droht aber auch die Loyalität zu sinken. Dieses Phänomen hat sich zunächst nicht stark bemerkbar gemacht. Der Wille zum Konsens war stark entwickelt und die Freude in der EU "dazuzugehören" war groß genug, um Hindernisse in der Entscheidungsfindung zu überwinden. Mit der Zeit aber begann die Loyalität zum europäischen Gedanken Abnützungserscheinungen aufzuweisen.

Die Drohung, mit einem Veto die Einstimmigkeit zu blockieren, war bis vor relativ kurzer Zeit fast ein Tabubruch. Heute ist das anders - der nationalistische Gegenwind wird stärker. Wenn ich daran denke, wie manche Regierungschefs heute über die EU und EU-Institutionen reden - und warum sollte ich nicht als Beispiel dafür den ungarischen Ministerpräsidenten nennen -, dann bekommt man den Eindruck, sie sprechen nicht über eine Institution, deren Mitglied sie aufgrund eines Ansuchens (!) um Aufnahme sind, sondern über eine Organisation, vor deren Einfluss und vor deren Entscheidungen man sich in Acht nehmen muss. In den letzten Jahren konnte man sogar Sätze hören wie: "Wir haben uns von der Bevormundung aus Moskau nicht befreit, um uns jetzt von Brüssel bevormunden zu lassen" oder Ähnliches.

Das Problem liegt aber nicht nur darin, dass eine Institution, die aus fast 30 Staaten, mit 30 Regierungen, 30 Regierungschefs, 30 Parlamenten und 30 verschiedenen Wahlvölkern besteht, naturgemäß zentrifugale Kräfte entwickelt; das Problem besteht vielmehr auch darin, dass in den einzelnen Mitgliedsstaaten nationale Tendenzen und Strömungen unübersehbar stärker werden, die sich bremsend auf die internationale Zusammenarbeit auswirken. Man muss sich ja nur die Wahlresultate und die Zusammensetzung der Parlamente in den Mitgliedsstaaten der EU, aber auch des Europäischen Parlaments in den letzten 20 Jahren ansehen.

Pioniere Europas für einstarkes Europa

Man erkennt es auch an den Diskussionen zum Migrations- und Flüchtlingsthema oder ganz akut an den Diskussionen über den Finanzrahmen der Europäischen Union: Geld der Nationalstaaten für die Europäische Union wird nicht als Geld für die Aufgaben unserer Union gesehen, sondern als Geld, das "für Brüssel", also fremde Zwecke ausgegeben wird. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben liegen auf der Hand.

Gibt es dafür eine Erklärung? Manche meinen, dass wir zwar aus den verheerenden Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs, aus den Verbrechen der Nationalsozialisten, aus der historischen Feindschaft zwischen europäischen Nationen die richtigen Lehren gezogen haben, dass aber solche Lehren nach zwei oder drei Generationen zu verblassen beginnen und ihre Wirkung nachlässt. Das Ende des Zweiten Weltkriegs liegt jetzt immerhin schon mehr als 73 Jahre zurück.

Andere argumentieren, dass angesichts der um ein Vielfaches vermehrte Anzahl der Mitgliedsländer der EU der einzelne Mitgliedsstaat dazu tendiert, seine nationalen Anliegen viel stärker und härter zu vertreten, um sich durchzusetzen, was zu einem wachsenden Nationalismus und Egoismus beiträgt.

Ein dritter Standpunkt lautet, dass das alles ja nicht nur ein EU-Problem sei, sondern der nationale Egoismus außerhalb der EU, siehe Trump, siehe Putin, siehe Erdogan, noch deutlicher zunimmt, weil der weltweite Wettbewerb härter wird. Wenn für den amerikanischen Präsidenten Trump der Grundsatz "America first" gilt, dann darf man sich nicht wundern, dass dies Nachahmer findet und Reaktionen auslöst.

Wahrscheinlich addieren sich diese verschiedenen Erklärungsmuster.

Tatsache ist jedenfalls, dass Österreich vom Anwachsen nationalpopulistischer Positionen nicht unberührt ist. Wenn ich das plastisch und verständlich schildern soll, würde ich sagen: Im Match "Austria first" gegen "Europäische Solidarität" liegt das erstgenannte Team derzeit deutlich in Führung. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Flüchtlingspolitik. Es ist beschämend, wie gegen Flüchtlinge gezielt Stimmung gemacht wird.

Das Wort Subsidiaritätsprinzip wird verwendet, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass man Konzepte die auf eine Stärkung Europas, auf mehr Europa hinauslaufen, wie das etwa der französische Präsident Macron vorschlägt, höflich aber doch ablehnt. Denn jeder, der die Geschichte der europäischen Integration kennt, weiß, dass die Pioniere des Europagedankens für ein starkes Europa eingetreten sind. Ihr Ziel war das Prinzip der immer stärkeren Zusammenarbeit in einem starken Europa, also das Prinzip der Vertiefung und nicht der Renationalisierung.

Trotz allem einOptimist

Und wenn in diesem Zusammenhang gefordert wird, nur was wichtig ist, soll auf europäischer Ebene entschieden werden, und alles andere auf nationaler und regionaler Ebene, und dennoch ist nicht einmal das in Europa derzeit dominierende Flüchtlingsthema wichtig genug, um auf europäischer Ebene entschieden zu werden, dann ist das ein gutes Beispiel für das, was ich als nationalistischen Gegenwind empfinde.

Ich möchte aber mit großer Klarheit hinzufügen, dass ich trotz allem für Europa Optimist bleibe. Die Geschichte verläuft nicht geradlinig - wie mit einem Lineal gezeichnet -, sie kennt vielmehr Pendelbewegungen, Richtungswechsel, Tempoänderungen etc., und Europa wird längerfristig den nationalistischen Gegenwind überwinden und überwinden müssen, weil uns angesichts weltpolitischer Entwicklungen gar nichts anderes übrig bleiben wird, als in unseren Heimatstaaten verwurzelt zu sein, aber die europäische Zusammenarbeit weiter zu festigen. Die gemeinsame Zukunft Europas liegt nicht im Nationalismus, sondern in der Überwindung des Nationalismus.

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