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Menschenrechte sind nicht verhandelbar

Von Werner Kerschbaum

Gastkommentare

"Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen." So steht es in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Ein Recht, das heute, fast 70 Jahre später, in Vergessenheit zu geraten droht.

Schiffen, die im Mittelmeer Menschen aus Seenot retten, wird tagelang das Einlaufen in einen Hafen verwehrt. Stattdessen diskutieren Politiker, wie man Flüchtlinge am besten davon abhält, nach Europa zu kommen. Die Regierung schlägt sogar vor, dass diese in "Anlandezentren" außerhalb der EU keine Asylanträge mehr stellen dürfen. "Wir müssen unsere Grenzen schützen", rechtfertigen sich Politiker in solchen Fällen. Wer wirklich Schutz braucht, kommt in der öffentlichen Debatte nicht vor.

Eine Sprache, die humanitäre Akteure diskreditiert

Ich stelle Ihnen daher eine Familie vor: Vater Mahmoud, seine Frau Nesrin und die beiden Kinder, den achtjährigen Mohammad (er ist Autist) und seine siebenjährige Schwester Linda. Ihr Zuhause lag mitten im syrischen Kriegsgebiet. Immer wenn Flugzeuge über ihr Haus flogen, verkroch sich Mohammad unter dem Tisch. Linda hörte auf zu sprechen. Die Situation wurde unerträglich, und die Familie flüchtete. Heute leben die vier in Wien und warten auf ihren Asylbescheid. Die Kinder gehen zur Schule, Mahmoud besucht einen Deutschkurs, um bald wieder arbeiten zu können. Ihre Zukunft sieht die Familie in Österreich, auch wenn das bedeutet, wieder bei null anzufangen. Müssen wir uns vor ihnen schützen? Wohl kaum.

Im öffentlichen Diskurs wird ein anderes Bild vermittelt. Statt von Schicksalen und Menschen wird von einer Flüchtlingskrise, einer "Welle, die uns überrollt", gesprochen, von einem "Strom, den es zu stoppen gilt", sogar von einem "Abfluss" von Serbien nach Bosnien. Es ist die Rede davon, Asylwerber "konzentriert an einem Ort zu halten", von "illegalen Migranten", und von "Asylindustrie" und "Asyltourismus".

Das ist eine Sprache, die - bewusst oder unbewusst - ein humanitäres Menschenbild attackiert; eine Sprache, die humanitäre Akteure diskreditiert. Es werden Grenzen "dichtgemacht" und gleichzeitig neue in den Köpfen der Bevölkerung gezogen. Es werden Grenzzäune statt Brücken gebaut. Es werden Bedrohungen herbeidiskutiert, um aus Angst politisches Kapital zu schlagen.

Wenig beachtete Fakten zur sogenannten Flüchtlingskrise

Dem gegenüber stehen Fakten, die weniger Beachtung finden. Dass Asylanträge in Österreich stark sinken, wissen wenige. Stattdessen geistert eine neue "Balkanroute" durch die Medien. Ja, es gibt sie, die Veränderung der Flüchtlingsroute, doch Grund zu Alarmismus ist das keiner, wie das UNHCR bestätigt. Denn die Zahlen sind moderat. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Asylanträge in der EU von Jänner bis April sogar um mehr als 90.000 gesunken.

Global gesehen gibt es jedoch immer mehr Flüchtlinge und Vertriebene. Alle zwei Sekunden wird ein Mensch zur Flucht gezwungen, so das UNHCR. Die meisten von ihnen wollen nicht nach Europa. Denn die größten Fluchtbewegungen führen nicht in den reichen Norden, in vielen Fällen nicht einmal über die Landesgrenze. Flüchtlinge leben großteils in Entwicklungsländern (85 Prozent).

Tatsächlich sind zwei Drittel aller Geflohenen Binnenflüchtlinge; sie bleiben also im eigenen Land. Vier von fünf suchen in einem Nachbarland Schutz, in der Hoffnung, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Das größte Aufnahmeland weltweit liegt nicht in Europa, sondern ist die Türkei mit 3,5 Millionen Flüchtlingen. Unter den Top 5 der Aufnahmeländer findet sich kein einziges europäisches.

Diese Informationen gehen in der öffentlichen Debatte unter. Stattdessen dominieren Schlagworte wie "Ausländerkriminalität" und "Sozialtourismus" und schüren Angst. Zu Unrecht. Österreich ist heute sicherer als vor zehn Jahren, die Kriminalität sinkt - sowohl was Eigentums- als auch Gewaltdelikte betrifft. Auch unser Sozialsystem ist durch Migration nicht in Gefahr. Die Arbeitslosigkeit von Ausländern sinkt, wenngleich sie höher ist als bei Inländern.

Die Willkommenskultur ist einer Abwehrkultur gewichen

Ungeachtet dessen wird Stimmung gegen Flüchtlinge gemacht. Die Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, wird ausgeblendet. Die Willkommenskultur ist einer Abwehrkultur gewichen - beide Zugänge sind weit davon entfernt, pragmatische Antworten zu bieten. Dieser Wandel hat solche Dimensionen angenommen, dass Hilfsorganisationen zum Beispiel in Ungarn bestraft werden sollen, wenn sie sich für Asylwerber einsetzen. Niemand sollte sich fürchten müssen, weil er sich für Menschenrechte einsetzt und anderen hilft. Flüchtlinge und Migranten brauchen Zugang zu humanitärer Hilfe und müssen ihre Menschenrechte wahrnehmen können.

Mir liegt es fern, tatsächliche Probleme beschönigen zu wollen. Ja, es ist herausfordernd, gemeinsame europäische Lösungen zu finden. Ja, es ist eine riesige Herausforderung, jene Menschen, die bei uns ein Bleiberecht haben, zu integrieren. Und ja, es braucht im Bildungsbereich dringend neue Antworten auf drängende Fragen. Massive Investitionen für Integrationsmaßnahmen und die viel zitierte Hilfe vor Ort sind notwendiger denn je. Und sie werden leider nicht ausreichend getätigt.

Werner Kerschbaum ist seit 2012 Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes und in dieser Funktion auch für die Bereiche Recht und Migration verantwortlich.
© ÖRK/J. Christandl

Mit 1. Juli hat Österreich den EU-Vorsitz übernommen. Das Motto dazu lautet: "Ein Europa, das schützt." Bleibt zu hoffen, dass dieser Schutz statt Landesgrenzen auch jenen zukommt, die ihn am nötigsten brauchen: Frauen, Männern und Kindern, die vor Gewalt, Krieg, Hunger und Verfolgung fliehen. Menschenrechte, wie das Recht auf Asyl, sind nicht verhandelbar und gelten auch für Österreich.

Wir sollten alle ein großes Interesse daran haben, dass humanitäre Haltungen in unserer Gesellschaft nicht durch ständige verbale Attacken erodieren. Es macht mich traurig, daran überhaupt erinnern zu müssen.

Bitte mehr Graustufen in der Flüchtlingsdebatte.