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Freiheit zu sich selbst

Von Alexander von der Decken

Gastkommentare
Alexander von der Decken lebt als Publizist in Bremen. Er war lange Jahre außenpolitischer Redakteur beim "Weser-Kurier". Alle Beiträge dieserRubrik unter:www.wienerzeitung.at/gastkommentare

Mesut Özil ist für Fußball-Deutschland das, was US-Präsident Donald Trump für Polit-Deutschland ist.


Die Fußballweltmeisterschaft in Russland ist vorbei - Frankreich ist der große Sieger. In Deutschland sind die Nachwehen noch stark zu spüren. Erfolglosigkeit verbindet - oder wie man es schafft, dass man es nicht schafft. Der Auftritt der deutschen Nationalmannschaft bei der WM und seine Strahlkraft in die Öffentlichkeit hinein haben das Argumentationsniveau der deutschen Bundesregierung erreicht: Konjunktive, Ratlosigkeit und Schuldzuweisungen - die Sündenbocksuche überdeckt das Tagesgeschäft.

Der einst gelobte Spielmacher der Deutschen, Mesut Özil, hat es nach seinem umstrittenen Auftritt mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf zum Bösewicht der Nation gebracht. Der Totalausfall des Teams verlangt nach einer Erklärung.

Özil ist für Fußball-Deutschland das, was US-Präsident Donald Trump für Polit-Deutschland ist - der Sündenbock; der eine redet gar nicht, der andere zuviel. Dass das deutsche Spiel à la Joachim Löw ebenso in die Jahre gekommen sein könnte wie das Regieren à la Angela Merkel, geht in all der lyrisch überhöhten Semantik unter.

Was genau hat Özil getan? Er hat in Anspruch genommen, was unser freiheitliches Gemeinwesen ihm zugesteht: Er hat Stellung bezogen, er hat seine Meinung kundgetan - ob das nun klug war oder nicht, ist zweitrangig. Und Trump? Er macht Politik mit anderen Mitteln, er stört die Schlummerphase europäischer Selbstverliebtheit mit seiner undiplomatischen Rhetorik. Auch hier gilt: Gewöhnungsbedürftig ist es allemal, und mögen muss man den Mann nicht, aber er bewegt sich im Rahmen des Machbaren. Beide, der deutsche Nationalspieler und der US-Präsident, tun etwas, was die deutsche Befindlichkeit zutiefst verunsichert: Sie stören die satte Beschaulichkeit, an der dieses Land zu ersticken droht.

Trump und Özil taugen zum Bösewicht, weil sie die behäbige Selbstgefälligkeit durcheinanderwirbeln. Sie werden als personifizierte Unsicherheit wahrgenommen. Auf einmal ist da die Absurdität der Sicherheit, begleitet von der Angst vor der Freiheit, denn Freiheit impliziert Veränderung. Freiheit ist nach Immanuel Kant (1724 bis 1804) die triebhafte Leere, das Nichts, das der Mensch mit ethischem Handeln füllen kann, wenn er sich seiner Freiheit stellt.

Das Paradoxe dabei ist, dass der Mensch ihr nicht entkommen kann. Er hat die Freiheit, die Unfreiheit zu wählen, der Moment einer jeden Entscheidung ist offen, frei von Kausalität, es ist immer ein Sprung ins Nichts, der seinen Kontext erst im Nachhinein bildet. Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Kant träumte von einer Gesellschaft, die in gegenseitiger Achtung Freiheit lebt. Die Özils und Trumps dieser Welt sind die Leerstellen der Eigenverantwortlichkeit. Ihre Existenz ist diametral entgegengesetzt zu denken.

Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881 bis 1942) hat einmal geschrieben: "Des geistigen Menschen höchste Leistung ist immer Freiheit. Freiheit von den Menschen, Freiheit von den Meinungen, Freiheit von den Dingen, Freiheit nur zu sich selbst."

Dem ist nichts hinzuzufügen.