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Arbeitszeitbeschränkung ist Lebenszeitverlängerung

Von Martin Risak

Gastkommentare

Der 12-Stunden-Tag und die Frage der gerechten Verteilung von selbstbestimmter Lebenszeit innerhalb einer Gesellschaft.


Der Begriff der Gerechtigkeit ist so unglaublich vielschichtig, dass er, wird nicht behutsam und differenziert damit umgegangen, bestens für geradezu alle Zwecke instrumentalisiert werden kann. Gerechtigkeit ist so zu einem politischen Kampfbegriff geworden, der als Superwaffe immer dann zum Einsatz kommt, wenn hohe Emotionalisierung bei geringer Konkretisierung gefragt ist. Dann geht es häufig um "alte" Werte und um "neue" Gerechtigkeit.

Zumeist steht dabei nicht - wie in der klassischen antiken Philosophie - die Frage des gerechten Handels im Sinne eines tugendhaften Lebens, sondern die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Vordergrund: Wie kann eine ausreichende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden? Dieser Aspekt spielt in der politischen Diskussion die Hauptrolle wobei es um die Zuteilung materieller Ressourcen wie Einkommen und Vermögen geht. Darüber wurde schon viel und trefflich gestritten. Deshalb will ich mich im Weiteren mit der aktuellsten und wohl auch am härtesten diskutierten Gerechtigkeitsthematik der vergangenen Wochen auseinandersetzen: der Arbeitszeit und deren Beschränkung beziehungsweise Ausweitung.

Bei der Arbeitszeit geht es letztlich darum, wie viel Lebenszeit eines Menschen selbstbestimmt gelebt werden kann und wie viel an einen anderen verkauft werden muss beziehungsweise darüber anderweitig fremdbestimmt wird. Das hat einen individuellen Aspekt, der die Frage betrifft, wie viel Zeit Menschen zur freien Verfügung haben sollen. Dabei spielt vor allem die Dauer der Arbeitszeit eine wesentliche Rolle, da diese schon aufgrund der Definition des Arbeitsverhältnisses als "Arbeit in persönlicher Abhängigkeit" wohl das beste Beispiel für fremdbestimmte Zeit ist. Daneben gibt es natürlich auch andere nicht-autonome Zeiten, da ja auch die Wohnung gereinigt und Kinder sowie Pflegebedürftige versorgt werden müssen.

Lange Arbeitszeit heißt: noch weniger Zeit zum Leben übrig

Es geht also nicht nur um die Arbeitszeit an sich, sondern um jene Lebenszeit, über die nicht frei verfügt werden kann. Wenn aber schon die Arbeitszeit sehr lang ist, dann bleibt noch weniger Zeit zum Leben übrig - es sei denn, es können andere dazu bezahlt werden, für einen zu kochen, zu putzen und die Kinder zu betreuen. Da Menschen heutzutage nach ihrem Verständnis nicht zur Erwerbs- und Sorgearbeit leben, erscheint es ihnen aber wichtig, dass auch "Zeit zum Leben" übrig bleibt. Die "Work-Life-Balance" muss eben stimmen. Arbeitszeitbeschränkung ist daher Lebenszeitverlängerung - je weniger gearbeitet wird, desto mehr selbstbestimmte Zeit bleibt übrig.

Interessanterweise sind Menschen aber gerne bereit, mehr zu arbeiten, wenn die Arbeit als sinnstiftend erfahren wird und die Perspektive eine positive ist. Viele sind dazu bereit, entsprechend viel zu arbeiten, wenn damit ihr Leben und auch das ihrer Kinder besser wird. Unter diesem Aspekt erscheint eine Ausweitung der Arbeitszeit "gerecht", da dieser eine Verbesserung der Lebenssituation gegenübersteht.

Derzeit ist die Situation aber eine andere - es muss mehr gearbeitet werden, damit es nicht sehr viel schlechter wird. So erscheint vielen eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 12 Stunden als ungerecht, da mit der Mehranstrengung und dem Verlust an autonomer Lebenszeit keine entsprechende Kompensation einhergeht. Und auch vor allem deshalb war die Bundesregierung in der parlamentarischen Debatte wohl so bemüht zu betonen, dass die Arbeit über 10 Stunden hinaus freiwillig ist und es dafür Überstundenzuschläge oder zumindest längere Freizeiträume gibt. Damit sollte die Mehrleistung im Interesse der Arbeitgeber "gerecht" abgegolten werden.

Arbeitnehmer sollen Längeder Arbeitszeit mitbestimmen

Eine angemessene Berücksichtigung sieht nach meinem Verständnis freilich anders aus: Da die 11. und 12. Stunde ungleich belastender sind als die Stunden davor, müsste der Zuschlag dafür erhöht werden (zumindest auf 75 Prozent). Und es müssten, um echte Autonomie zu gewährleisten, die Arbeitenden ein Recht darauf haben, bis zu 12 Stunden zu arbeiten, wenn sie es möchten - und die Arbeitgeber könnten dies nur dann ablehnen, wenn tatsächlich betriebliche Gründe gegen eine überlange Arbeitszeit sprächen. Dann wäre ein 12-Stunden-Arbeitstag tatsächlich gerecht, da gewährleistet würde, dass die Ausweitung der Arbeitszeit nicht nur im Interesse der Arbeitgeber liegt. Sie könnten dann länger arbeiten, wenn sie das tatsächlich wollen, und würden dann auch entsprechend ihrer Belastung entlohnt werden.

Die Dauer der Arbeitszeit hat darüber hinaus auch einen kollektiven/sozialen Aspekt, der die unterschiedliche Verteilung selbstbestimmter Zeit in einer Gesellschaft zwischen den einzelnen Mitgliedern problematisiert: Ist es gerecht, wenn jemand den ganzen Tag zur freien Verfügung hat und andere sich rund um die Uhr abarbeiten? Es geht dabei um die Frage der Rechtfertigung, warum jemand nicht arbeiten muss: Weil er so reich ist; weil er keine Arbeit findet beziehungsweise weil wir gar nicht möchten, dass bestimmte Personen arbeiten; weil es Sorgepflichten oder andere Gründe gibt (zum Beispiel eine Behinderung), die es gerechtfertigt erscheinen lassen, dass keiner Erwerbsarbeit nachgegangen wird. Es geht letztlich darum, wer arbeiten muss im Sinne davon, dass Lebenszeit verkauft wird, damit Einkommen erwirtschaftet wird, von dem dann gelebt wird. Und wer das eben nicht tun muss.

Es zeigt sich somit, dass die Regulierung der Arbeitszeit eng mit Fragen der gerechten Verteilung von selbstbestimmter Lebenszeit innerhalb einer Gesellschaft verbunden ist. Sie ist ein Indikator dafür, mit wie vielen Stunden Erwerbsarbeit ein Einkommen erzielt werden soll, mit dem ein Auskommen gefunden werden kann. Sind das maximal 10 Stunden, dann bleiben 14 Stunden zur mehr oder weniger freien Verfügung - bei 12 Stunden sind es 2 Stunden weniger.

Belastung für Personen mit wenig Zeitautonomie steigt

Unter Druck geraten jene Personen, die ohnehin schon jetzt kaum Zeitautonomie besitzen und wenig verdienen. Bei dieser Gruppe kommt weder das neu eingeführte freie Ablehnungsrecht zum Tragen, da sie aus finanziellen Gründen ohnehin alle Stunden nehmen, damit sie etwas mehr zum Leben haben.

Die Einführung des 12-Stunden-Tages verschiebt die Grenze dafür nach oben und belastet jene mehr, die es schon aufgrund ihrer schlechten ökonomischen Ausgangssituation ohnehin schwer haben - ganz in dem Sinne: Wenn es sich finanziell nicht mehr ausgeht, arbeite halt mehr. Das wurde nunmehr möglich gemacht - "justice for all" (Metallica) sieht nach meinem Verständnis aber anders aus.

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