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Der Pakt der Diktatoren

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Vor 79 Jahren schlossen Hitler und Stalin einen Nichtangriffspakt ab - kurz danach begann der Zweite Weltkrieg.


Vor mehr als 80 Jahren, am 12./13. März 1938, fand der sogenannte "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland statt, mit dem wir uns in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv beschäftigt haben. Ein beschämend großer Teil der österreichischen Bevölkerung war - aus durchaus verschiedenen Gründen - begeistert und jubelte. Ein anderer Teil der österreichischen Bevölkerung war entsetzt und wusste beziehungsweise ahnte, was bevorstand: Hitler bedeutet Terror, Hitler bedeutet Krieg.

Und sie hatten recht. Im Jahr nach dem Anschluss begann der Zweiten Weltkrieg und knapp sieben Jahre nach dem "Anschluss" hatte Hitlerdeutschland eine vernichtende Niederlage erlitten, waren viele Millionen Tote zu beklagen, und Hitler entzog sich seiner Verantwortung durch Selbstmord.

Ich nenne einige Daten von historischer Bedeutung in der Jahresabfolge zwischen 1938 und 1945:

12./13. März 1938: der sogenannte "Anschluss".

24. August 1939: Abschluss des Hitler-Stalin Paktes, dem acht Tage später der Überfall Hitlers auf Polen folgte.

22. Juni 1940: Hitler erobert Paris, Frankreich muss kapitulieren. Hitler ist am Höhepunkt seiner Macht angelangt.

22. Juni 1941: Hitler überfällt die Sowjetunion ("Aktion Barbarossa").

20. Jänner 1942: Wannseekonferenz: Entscheidung, dass die jüdische Bevölkerung nicht nur aus dem Deutschen Reich beziehungsweise aus dem deutschen Einflussgebiet vertrieben, sondern vom Baby bis zum Greis ermordet werden soll.

2. Februar 1943: Kapitulation der 6. Armee der Deutschen Wehrmacht bei Stalingrad. Kriegsende.

6. Juni 1944: D-Day. Landung der Alliierten an der Atlantikküste.

30. April 1945: Hitler begeht Selbstmord.

8. Mai 1945: Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa.

Ich möchte mich im Besonderen dem im August 1939, also vor genau 79 Jahren abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt, diesem unseligen Pakt zwischen Feuer und Wasser, zwischen Nazis und Bolschewiken, zwischen den entferntesten politischen Extremen zuwenden.

An diesem Beispiel wurde übrigens die von manchen aufgestellte These bestätigt, dass dort, wo Extreme am weitesten voneinander entfernt scheinen, ihre Vergleichbarkeit beginnt.

Totale Fassungslosigkeitnach Abschluss des Pakts

Hitler und Stalin waren Todfeinde. Nazis opferten ihr Leben im fanatischen Kampf gegen den Stalinismus. Kommunisten opferten ihr Leben im erbitterten Kampf gegen den Bolschewismus; aber in Wahrheit hatten diese beiden Systeme in ihrem Selbstverständnis, in ihrer Funktionsweise und in ihrer Rücksichtslosigkeit und Menschenverachtung erstaunliche Ähnlichkeiten.

Als die ersten Meldungen über den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts veröffentlicht wurden, herrschte totale Fassungslosigkeit - und zwar in den europäischen Staatskanzleien ebenso wie bei vielen einfachen Bürgerinnen und Bürgern.

In manchen Biografien ehemaliger Kommunisten kann man nachlesen, dass die Nachricht über den Pakt zwischen Hitler und Stalin zunächst einfach nicht geglaubt wurde. Das konnte nicht wahr sein. Das musste eine Fälschung, eine Lüge aus dem Propagandaministerium von Josef Goebbels sein. Der polnisch-österreichische ehemalige Kommunist Alexander Weißberg-Cybulski, der Ende der 30er Jahre in die Mühlen der sowjetischen Schauprozesse gelangt war, schrieb, dass er an die Wahrheit dieser Meldungen nicht einmal dann glauben konnte, als er ein Foto sah, auf dem Molotow und Ribbentrop unter den Augen des zufrieden dreinschauenden Stalin ihre Unterschriften unter den Pakt setzten. Schließlich kann man auch Fotos fälschen. Und auch viele fanatische Hitleranhänger werden gestaunt haben.

Aber es war keine Fälschung. Es war Wahrheit, traurige und unfassbare Wahrheit. Die Todfeinde verbündeten sich ohne Vorankündigung, um sich wichtige Teile Europas aufzuteilen. Hitler wollte Stalin hineinlegen, aber erst im Westen "Ordnung machen", und Stalin wollte Hitler hineinlegen, aber mehr Zeit für die Aufrüstung der Roten Armee haben. Schließlich hatten die brutalen Säuberungen gegen alte Bolschewiki und gegen führende Offiziere der Roten Armee in den Jahren 1936 bis 1938 dazu geführt, dass drei der fünf Marschälle in der Sowjetunion, nämlich Tuchatschewski, Jegorow und Blücher, 13 von 15 Armeekommandanten, 57 von 85 Korpskommandanten und weitere tausende Offiziere ohne öffentliches Verfahren erschossen wurden.

Millionen Menschenlebenauf dem Gewissen

Extreme Machtmenschen standen einander gegenüber. Der am 18. Dezember 1878 in der kleinen Ortschaft Gori im heutigen Georgien geborene, damals im 61. Lebensjahr stehende Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, und der am 20. April 1889 in Braunau geborene, damals im 51. Lebensjahr stehende Adolf Hitler. Beide haben Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Ich weiß nicht, ob es eine seriöse Berechnung gibt, wer von beiden mehr Menschen zu Tode gebracht hat. Stalin hat seine tatsächlichen und vermeintlichen Feinde in der Sowjetunion in unfassbar großer Zahl gezielt ermordet und darüber hinaus Millionen Menschenleben von Bauern durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und durch Umsiedlungen ums Leben gebracht. Vielleicht sind in den Gestapo-Gefängnissen weniger Menschen getötet worden als in den Kellern des NKWD, aber dafür hat Hitler sechs Millionen Jüdinnen und Juden auf dem Gewissen, die seinem Rassenwahn zum Opfer fielen.

Natürlich hatte der Hitler-Stalin-Pakt auch eine Vorgeschichte. Der Einmarsch deutscher Truppen in Österreich im März 1938 zeigte, dass Hitler auch vor militärischen Aktionen zur Vergrößerung seines Einflussbereichs nicht zurückschreckte. Beim Münchner Abkommen vom 29. September 1938 gab es noch einen letzten Versuch von Großbritannien und Frankreich, mit Hitler eine vertragliche Vereinbarung zu schließen und damit einen Krieg zu vermeiden. Und zwar hofften Großbritannien und Frankreich, Hitler durch Nachgiebigkeit besänftigen zu können.

Aber das erwies sich als Illusion, und so entstand die Idee, Hitler durch die Schaffung "einer gemeinsamen Front zur gegenseitigen Hilfeleistung zwischen Großbritannien, Frankreich und der UdSSR" abzuschrecken und in die Schranken zu weisen. Der sowjetische Außenminister (damals noch Maxim Litwinow) verhandelte mit Großbritannien und Frankreich, aber vor allem die Franzosen waren misstrauisch und zögerlich. Im Mai 1939 wurde der sowjetische Außenminister Litwinow, der jüdische Vorfahren hatte und von der nationalsozialistischen Presse besonders gehässig attackiert wurde, abgelöst und Molotow trat an seine Stelle.

Der sture Altstalinist Molotow genoss bei den Engländern und den Franzosen noch weniger Vertrauen als sein Vorgänger, während die deutsche Diplomatie eine Chance sah, das Entstehen eines Bündnisses zwischen Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion zu verhindern, indem man sich selbst mit dem Erzfeind verbündet. Eine erste Andeutung in dieser Richtung war die sogenannte "Kastanienrede" von Josef Stalin im März 1939, in der er erklärte, dass die UdSSR keine Lust habe, für die "kapitalistischen Mächte", England und Frankreich, die Kastanien aus dem Feuer zu holen - als ob Nazideutschland kein kapitalistisches Land gewesen wäre.

Definition und Abgrenzung vonInteressensphären in Europa

Bald darauf begannen die Verhandlungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion, und am 19. August 1939 wurde in Berlin ein deutsch-sowjetischer Wirtschaftsvertrag abgeschlossen. Am gleichen Tag erklärte Molotow im Namen der sowjetischen Regierung, dass man bereit sei, innerhalb kurzer Zeit Außenminister Ribbentrop in Moskau zur Unterzeichnung eines Nichtangriffspakts zu empfangen. In einem geheimen Zusatzprotokoll zu diesem Pakt vom 24. August 1939 wurden Interessensphären definiert und abgegrenzt. Estland, Lettland und Finnland sollten in einer sowjetischen Einflusssphäre liegen, Litauen in der deutschen Einflusssphäre. Das Staatsgebiet Polens wurde entlang der Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San zwischen sowjetischer und deutscher Einflusssphäre geteilt, hinsichtlich Südosteuropa bekundete das Deutsche Reich "Desinteresse an Bessarabien".

Auf der Grundlage dieses Pakts wagte Hitler am 1. September 1939 den Angriff auf Polen, und bald darauf gab es auch Krieg zwischen Frankreich und Hitlerdeutschland sowie Großbritannien und Hitlerdeutschland, was für Hitler einen nicht erwünschten Zweifrontenkrieg im Osten und im Westen zur Folge hatte, den er letzten Endes verloren hat. Aber bis dahin gab es noch zahlreiche Ereignisse, die den Größenwahn Hitlers und seiner Vasallen steigerten, wie zum Beispiel den raschen militärischen Sieg gegen Frankreich. Umso vernichtender war das Ende des Zweiten Weltkrieges für Hitler und den Nationalsozialismus.

Und auch wenn Stalin einen entscheidenden Anteil am Sieg über den Hitlerfaschismus hatte, liegen doch beide Partner des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 im Spitzenfeld der Negativfiguren des 20. Jahrhunderts.

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