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Werktreue versus neue Deutung

Von Robert Schediwy

Gastkommentare

Ein Beitrag zu einer scheinbar endlosen Diskussion über das Regietheater.


In der aktuellen Salzburger Fassung der "Salome" eilen Männer in orthodox ostjüdischer Tracht und mit blutverschmierten Masken vor einer Art Klagemauer hin und her - im Hintergrund findet derweilen ein Boxkampf statt. Der in Haft gehaltene Jochanaan aus dem Bibeldrama hat die Gestalt eines großen schwarzen Vogels.

Dafür tritt in Wolfgang Amadeus Mozarts "Zauberflöte" die Königin der Nacht als weiße Spinne auf. Das Libretto wird übrigens von einem freundlichen Opa drei Knaben in der Art von Grimms Märchen erzählt. Vom volkstümlichen Charme des Originalsingspiels bleibt fast nichts erhalten. Das heiß diskutierte Thema Regietheater bleibt also auch bei den Salzburger Festspielen 2018 aktuell - und via ORF kann sich so mancher Opernfreund oder -feind ausführlich damit befassen.

Warum dieser ewige Streit um die "kreative Umgestaltung" klassischer Bühnenwerke durch ambitionierte Regisseure?

Wenig Abwechslungauf den Opernbühnen

Für den Bereich der Oper gibt es relativ plausible Antworten. Das Genre basiert weltweit auf etwa 120 Werken, wobei das Schwergewicht der Aufführungspraxis immer noch auf den beliebten Werken von Mozart, Giuseppe Verdi, Giacomo Puccini und Georges Bizet liegt (Richard Wagner notiert abgeschlagen im Mittelfeld). Moderne Opern werden zwar in Auftrag gegeben und geschrieben, aber kaum in nennenswertem Maße nachgespielt, "Wiederentdeckungen", etwa von Werken des Barock oder der Zwischenkriegszeit (Ernst Krenek, George Gershwin & Co), erzielen bloße Achtungserfolge. Da muss man dem WZ-Redakteur Christoph Irrgeher recht geben, der hier einen gewissen latenten Überdruss bei Kritikern und Regisseuren ortet: Der Kritiker, der seine gefühlt tausendste "Tosca" bespricht, ist in der Tat dankbar für ein wenig Abwechslung auf der Bühne.

Diese Abwechslung realisiert sich heute zumeist über Kostüm und Bühnenbild. Walküre in der Sowjetunion, Rigoletto auf dem Planeten der Affen - für den mit dem Ewiggleichen Überfütterten mögen solche optischen Ausflüge in andere Milieus, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten üblich geworden sind, eine gewisse Erholung bieten. Das Problem bei der Sache ist: Ein etwas blasiertes Festspielpublikum, das hauptsächlich gekommen ist, um zu sehen und gesehen zu werden, mag ein Stück des Wegs mit solchen Experimenten mitgehen - aber wenn zum x-ten Mal SA und SS in einem umgebauten und runderneuerten, aber eigentlich im Mittelalter angesiedelten Stück aufmarschieren, macht sich doch diskrete Langeweile breit.

Die Angst vor demberühmten Zitat

Etwas komplexer ist die Lage beim gesprochenen Wort. Hier besteht ein viel größeres Reservoir an verwendbaren Stoffen und als Rohmaterial brauchbaren Texten. Der Überdruss macht sich allerdings auch hier bemerkbar - namentlich die Angst vor dem bekannten, sprichwörtlich gewordenen Zitat. Frühere Generationen mögen stolz den halben "Büchmann" auswendig gelernt und darin einen Beleg ihrer Bildung gesehen haben, von "Sein oder Nichtsein" bis "Habe nun ach . . ." - den aktuellen Bühnenprofis aber graut sichtlich vor der allzu leichten Verfügbarkeit des berühmten Wortes. Solche allzu bekannten Stellen werden heute gerne "eingeebnet", sprich vernuschelt oder sogar gestrichen. Dabei wird allerdings übersehen beziehungsweise verdrängt, dass die altertümliche Sprache solcher Formulierungen auch eine gewisse Würdesphäre schafft. Sie sind Teil der "zauberischen" Wirkung des Theaters, die auch heute noch oftmals ganz junge Menschen erfasst. Hier besteht eine Parallele zur Sprachmagie mancher Gebete, die eine Abkehr und Modernisierung so problematisch macht - von der altertümlichen King-James-Version der Bibel mit ihrem "Thou" und "Thy" bis zu den "Gebenedeiten Weibern" des Rosenkranzes.

Natürlich kann man den großen Faust-Monolog auch so beginnen lassen: "Also, was soll ich Ihnen sagen: Ich habe mich auf allen Fakultäten herumgetrieben, auf wirklich allen, leider auch auf der Theologie. Und was ist dabei herausgekommen? Nichts. Außer blöden Titeln." Und ein in Richtung Wiener Dialekt entschärftes Hamlet-Zitat könnte lauten: "Soll i mi hamdrahn oda soll i ned?" Aber wer wollte behaupten, eine solche Modernisierung in die Richtung eines heutigen Sprachgebrauchs liefe zwangsläufig auf eine Verbesserung hinaus?

Die richtigen Fragen - ohne überzeugende Antworten

Am 24. Juli 2009 hielt der angesehene Autor Daniel Kehlmann, übrigens ebenfalls bei den Festspielen Salzburg, eine sehr persönlich gehaltene Rede, in der er sich kritisch mit dem Phänomen des Regietheaters auseinandersetzte. Er berichtete, wie sein Vater Michael Kehlmann, ein hochangesehener Regisseur, der sich explizit als "Diener des Werks" verstand, plötzlich außer Mode geriet - und daran zerbrach.

Daniel Kehlmann stellte in diesem Zusammenhang die Frage, wie es denn dazu kommen konnte, dass die deutschsprachige Theaterszene für Russen, Polen, Skandinavier und Engländer so unbegreiflich sei. ("Was denn das alles solle, fragen sie, ... wozu all das Gezucke und routinert hysterische Geschrei. Warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert . . ."). Kehlmann stellte die richtigen Fragen - aber er lieferte eigentlich keine überzeugenden Antworten.

Schaden allzu beliebte Stücke der Subventionierung?

Der brillante Journalist und leider allzu früh verstorbene Opernregisseur Paul Flieder, ein Schüler Walter Felsensteins und Harry Kupfers, hatte seine eigene Sicht betreffend das Regietheater, eine Sicht, die er aber nur zu vorgerückter Stunde und mit großer Vorsicht zu erläutern bereit war. Ja, er gebe zu, es bestehe aktuell die Tendenz, am Theater gegen den Geschmack des Publikums zu inszenieren und so laufend Theaterskandale oder zumindest Skandälchen zu produzieren. Das sei aber nur auf der Basis des mitteleuropäischen Subventionstheaters möglich. Die (heute bereits angejahrten) 1968er-Repräsentanten des Deutschen Bühnenvereins seien nämlich gar nicht interessiert an sowohl qualitätsvollen als auch bei Publikum und Kritik beliebten Inszenierungen.

Käme es nämlich häufiger zu solchen, so würden sie einen überdurchschnittlich hohen finanziellen Deckungsgrad erzielen. Dieses wieder wäre dem Begehren nach hohen Subventionen abträglich. Die subventionierenden Behörden könnten nämlich günstige Besucherstatistiken als Argument nutzen, um die finanzielle Unterstützung zurückzufahren. Flieder pflegte mit bitterer Ironie zu scherzen: "Jetzt habe ich schon wieder eine Regie gemacht, die bei Publikum und Kritik gut angekommen ist. Damit habe ich mir sicher sehr geschadet." Er hat sich natürlich gehütet, diese Auffassung zu publizieren. Aber er pflegte auch darauf zu verweisen, dass bei Bearbeitungen von eigentlich gemeinfreien Klassikern in der Regel Bearbeitungshonorare anfallen.

Im Musical gibt eskein Regietheater

Hier sei eine Vorhersage gewagt: Nur wenn es zu einer "populistischen" Wieder-Annäherung des in eine anti-volkstümliche, elitäre Richtung abgebogenen Opernbetriebs kommt, ist vielleicht mit einer Repopularisierung des Genres zu rechnen. Anzeichen dafür sind vorhanden. In Italien, wo die Verbindung von Arie und Gassenhauer nie ganz abgerissen ist, werden Lucio Dallas "Caruso" und Francesco Sartoris "Con te partirò" ("Time to Say Goodbye") gerne auch von Operntenören vorgetragen, und Puccinis "Nessun dorma" gesungen von Paul Potts grüßt gleichsam von der anderen Seite (die Nähe zum Schlager wurde Puccini ja seitens der "Avancierten" immer schon vorgeworfen).

Die lebendigste Form modernen Musiktheaters ist übrigens, ob es uns passt oder nicht, wahrscheinlich das Musical, und da gibt es keine regietheatralischen Spielereien, da werden Modellinszenierungen international verbreitet nach der Art von Markenartikeln. Wie immer also auch der Disput um Regietheater versus Werktreue ausgehen wird, er dürfte von künftigen Musiksoziologen als historisch eher unerheblich eingestuft werden.

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