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Europas Identitätssuche

Von Michael Kuhn

Gastkommentare

Mit einem bloßen Rückgriff auf das "eine, ungeteilte, christliche Europa" werden sich unsere heutigen Probleme nicht so einfach lösen lassen.


Eine Frage spielt in der aktuellen Diskussion der Selbstversicherung und Abgrenzung eine wesentliche, für manche alles entscheidende Rolle: "Wo kommen wir her, was sind unsere Wurzeln?" In diesem Zusammenhang fallen immer wieder die Worte "Christentum" und "christliches Europa". Aber: Reicht das denn wirklich aus, um Europas Identität zu bestimmen?

"Was ist los mit dir, Europa?" Diese direkte und unvermittelte Frage stellte Papst Franziskus in seiner Rede im EU-Parlament im November 2015. Und er verglich Europa mit einer alten und unfruchtbaren Frau, die, müde und abgelebt, unfähig sei, Neues hervorzubringen. Diese besorgten Worte des Papstes über den aktuellen Zustand Europas lösten ambivalente Reaktionen aus. Diese reichten von der Kritik an der Verwendung eines negativ besetzten Frauenbildes bis zur Feststellung: "Dieses Bild beschreibt die derzeitige Starre und Ideenlosigkeit Europas sehr treffend."

Um Letzteres dürfte es auch Papst Franziskus gegangen sein. Anders als sein Vorgänger Benedikt XVI. wirft er Europa keine "Geschichtsvergessenheit" und keinen "Selbsthass" vor, sondern er bedauert, dass Europa angesichts der Krisen, die es beuteln, wie erstarrt zu sein scheint, unfähig, Auswege aus diesen Krisen und den Weg zu sich selbst wiederzufinden. Dieser Erstarrung und Handlungsunfähigkeit Europas stellt er die Erwartungen und Hoffnungen gegenüber, die andere Länder und Kontinente mit Europa verbinden. Europa ist, so scheint es, vor allem mit sich selbst und seinen Krisen beschäftigt. Damit ist eine Gefahr verbunden: dass wir uns auf die negativen Seiten der Veränderungen fixieren und keinen Blick mehr für die mit Umbrüchen verbundenen Möglichkeiten und Chancen haben.

Ein Kontinent im Umbruch

Europa befindet sich aus unter­ schiedlichen Gründen im Umbruch. Der politisch noch nicht wirklich verarbeitete Übergang von einer "Gemeinschaft eines gemeinsamen Marktes" zu einer "politischen Union" (so die These des niederländischen Politikwissenschafters und Philosophen Luuk van Middelaar); die Finanz- und Wirtschaftskrise seit zehn Jahren, die auch Fehler im Bauwerk der Währungsunion freigelegt hat; die allmählich immer deutlicher werdenden grundsätzlichen Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung und den Einsatz von Robotics, die uns zwingen, über die Zukunft der Arbeit für den Menschen nachzudenken; die veränderten geopolitischen Verhältnisse, durch die Europa aufgefordert ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nicht mehr - wie in der Vergangenheit - auf die transatlantische Rückendeckung zu vertrauen. Diese Umbrüche lösen Verunsicherung aus: Alte Sicherheiten brechen weg, aber neue Zusammenhänge und Strukturen zeigen sich erst schemenhaft.

Umbruchsituationen und Krisen sind eng miteinander verbunden. Krisen zwingen uns zu Entscheidungen, sie ermöglichen Wachstum, Reifung und ein Finden der eigenen Identität. Gleichzeitig ist es verlockend, in den unsicheren Zeiten des Umbruchs auf Altbewährtes zurückgreifen zu wollen. Eine solche Verlockung ist die Vorstellung, dass ein Rückgriff auf das "eine, ungeteilte, christliche Europa" die Lösung für unsere heutigen Probleme darstellen könnte. Das wäre ein großer Irrtum: Unsere Gesellschaft ist viel weniger homogen als in der Vergangenheit, sie ist politisch, weltanschaulich und religiös plural, und eine Festlegung des Christentums auf seine "Wurzelfunktion" würde seine gestalterische Kraft eher verschütten als stärken.

Wegbegleiter in die Zukunft

Bei Papst Franziskus ist das anfänglich negative Bild einem vorsichtigen Optimismus gewichen. Es ist geprägt von der Zuversicht, dass Europa in der Lage ist, seine derzeitige Situation richtig einzuschätzen und Strategien zu entwickeln, um den mit den Umbrüchen verbundenen Herausforderungen zu begegnen. Europa müsse seine Talente wiederentdecken, so der Papst, und seine Fähigkeiten weiterentwickeln: die Fähigkeit, Neues zu integrieren, seien es Menschen, Kulturen oder neue Techniken.

Die Fähigkeit zum Dialog, der stärker ist als alle Differenzen und unterschiedlichen Sichtweisen, hilft uns, trotz dieser Unterschiedlichkeiten zivilisiert eine gemeinsame Lösung, einen für alle lebbaren Kompromiss zu finden. Schließlich hat Europa die Fähigkeit, wieder Neues zu schaffen, die Perspektive zu wechseln und den Mut, ungewohnte Dinge nicht nur durchzudenken und zu analysieren, sondern auch zu tun, anzupacken, umzusetzen, zu verwirklichen.

Für Franziskus haben Christen in Europa und für Europa eine wichtige Aufgabe: nicht als vergangenheitsverliebte Besserwisser, die hauptsächlich früheren Zeiten und der damit verbundenen und verloren gegangenen einstigen Größe und Bedeutung nachtrauern, sondern als vom Evangelium inspirierte und inspirierende Wegbegleiter Europas, die bereit und willens sind, dieses Europa, mit Blick auf die Zukunft, zu öffnen und mitzugestalten. "Europa hat Hoffnung, wenn es sich der Zukunft öffnet."

In diesem Sinn ist das Christentum ein integraler und unverzichtbarer Teil Europas. In diesem Sinn ist die Identität Europas auch - und entscheidend - christlich.

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