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Zehn Jahre Finanzkrise - Sein oder Haben?

Von Raimund Dietz

Gastkommentare

Die Folgen eines riskanten Vermögensspiels.


Wirtschaften findet in einem Spannungsverhältnis zwischen Real- und Finanzwirtschaft statt, man könnte mit Erich Fromm auch sagen: zwischen Sein und Haben. Um zu sein, muss man immer auch etwas haben: Ausrüstungen, Infrastruktur, Wissen, soziale Kompetenz, usw. Das alles muss eine Wirtschaft akkumuliert haben, bevor sie produzieren und konsumieren kann. Wo aber zu viel akkumuliert wurde und nur noch um des Habens willen gewirtschaftet wird, verliert man das Sein.

In eine solche Situation geriet die Wirtschaft in fast allen entwickelten Ländern schon Ende des vorigen Jahrhunderts. 2008 brach die Krise nach der Lehman-Pleite aus. Es hätte aber auch schon Jahre davor geschehen können. Die Energie der Masse der Teilnehmer war vor allem darauf gerichtet, Forderungen und Ansprüche an andere zu erwerben, um mit ihnen dann auf den Vermögensmärkten geschickt zu jonglieren. Diese anderen haben sich aber - spiegelbildlich dazu - entsprechend hoch verschuldet.

In der Realwirtschaft gibt es eine Menge von "Checks and Balances", die ein Ausufern der Spekulation eingrenzen. Wird eine Ware teurer, sinkt die Nachfrage. In der Finanzwirtschaft trifft aber meist das Gegenteil zu, sie neigt daher zur Hypertrophie: Wenn etwas teurer wird, kauft man erst recht. Unsittlich hohe Boni tun das Ihre dazu: Sie verleiten Banker, extrem hohe Risiken zu nehmen. Hinzu kommt das Gefühl: Wir sind zu wichtig; falls etwas schiefgeht, wird man uns schon retten. Wie zutreffend!

Weitere wichtige Ursachen des Wachstums der Finanzindustrie sind die Deregulierung der Finanzmärkte, neue Finanzprodukte (vor allem Derivate) und die Geldschöpfungsmacht der Geschäftsbanken. Zur Schieflage trägt auch die sich ständige verschlechternde Einkommens- und Vermögensverteilung bei.

Die Gefahren, die stimulierende Krediten bergen

Die Masse an kumuliertem Vermögen besteht heute aus monetären Ansprüchen an andere. Leider vergessen die Vermögenden allzu oft, dass ihre Forderungen nur etwas wert sind, solange ihre Schuldner selbst leistungsfähig bleiben. Das aber hängt vor allem von ihren eigenen Ausgaben ab. Das Vermögensspiel funktioniert daher nur so lange, als die Vermögenden auch Ausgaben tätigen. Werden sie aber so reich, dass sie ihre Überschüsse nur wieder in weiteren Vermögenswerte anlegen, nimmt die Schieflage ständig zu: Die Vermögensansprüche steigen, das Potenzial zu deren Realisierung bleibt weit dahinter zurück.

Finanzkrisen sind umso gefährlicher, je höher die Vermögenansprüche sind. Man arbeitet mit geringen Eigenkapitalmargen und hohen Hebeln, also niedrigen Risikopuffern. Desto ansteckender ist folglich die Panik. Das Problem mit den Vermögenspielen ist: Es hilft zu Beginn. Jeder Kredit wirkt stimulierend. Man kann ihn aber nur zurückzahlen, wenn man andere Ausgaben zurückstellt. Die aber fehlen dann.

Das Finanzkarussell funktioniert also wie eine Ratsche: Nach vorne geht’s flott, nach hinten klemmt sie. Vom einmal erreichten Niveau, das ursächlich für die Krise war, kommt man nicht so leicht herunter. Grundsätzlich gibt es nur drei Möglichkeiten:

1. Den Forderungen davonwachsen. Wie aber soll man mit einem schweren Rucksack rasch laufen?

2. Inflation. Auch die zu erreichen ist unter den Bedingungen einer Finanzkrise ganz schön schwierig. Die Teilnehmer sind depressiv gestimmt, der Preiszeiger weist eher nach unten. Die Zentralbanken müssen sehr aktiv werden, um eine Deflation zu verhindern. Nach einigem Zögern sprang die EZB ein und machte bisher 2,5 Billionen Euro locker, um den Banken schlechte Forderungen abzukaufen und ihnen dringend benötigte Liquidität zu verschaffen - Aktivitäten am Rande der Legalität!

3. Default, also Konkurs, ein Vergleich, eine Abschreibung der Forderungen. Das aber tut weh. In Europa unternahm die Politik fast alles, um dies zu verhindern. Kein Wunder also, dass bisher kaum eine Entlastung der Wirtschaft stattfand und das Haben noch immer das Sein dominiert. Es wurden vor allem die Banken gerettet auf Kosten der wirtschaftlichen Kraft. Am Beispiel Griechenlands ist das besonders sichtbar. Eine Folge davon ist die Überdimensionierung des Bankensystems insgesamt und das "too big to fail"-Syndrom von Großbanken.

In Österreich bekamen wir die Krise nur ein bisschen zu spüren: durch Niedrigzinsen, ein Nachhinken der Einkommen hinter der Produktivitätsentwicklung, Streichungen bei den Sozialausgaben, eine etwas höhere Arbeitslosigkeit, einschlägige Bankskandale (Bawag, Hypo Alpe Adria, usw.). In anderen Ländern, etwa Italien, Spanien und vor allem Griechenland, sind die Auswirkungen dramatischer. Die Milliarden von Rettungsgeldern hatten vor allem einen Zweck: die Vermögensansprüche, die die reichen Länder - und die Reichen in den reichen Ländern, allen voran die Großbanken - ansammelten, zumindest in den Büchern zu sichern.

Nach zehn Jahren Finanzkrise wiegen wir uns weiterhin in der Sicherheit des Habens, riskieren aber unser wirtschaftliches Sein in der Zukunft.

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