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Das Tauziehen um den Brexit

Von Melanie Sully

Gastkommentare
Melanie Sully istgebürtige Britin. DiePolitologin leitet das in Wien ansässige Institut für Go-Governance. Alle Beiträge dieserRubrik unter:www.wienerzeitung.at/gastkommentare
© Ernst Weingartner

Täglich hören die Briten neue Warnungen vor einem No-Deal-Weltuntergang. Der Weg aus der EU hinaus ist immer noch ein sehr weiter.


Ein Kollaps des Bankensystems; ein Schwarzmarkt für Arzneimittel; ein Einmarsch der Armee, um Recht und Ordnung wiederherzustellen; vorgezogene Wahlen oder ein neues Referendum - täglich tauchen neue Szenarien zum Brexit auf. Noch nie in der gesamten Nachkriegsgeschichte Großbritanniens war die Politik so unberechenbar.

Es herrscht ein Leadership-Vakuum. Labour steht vor der größten Krise seit den Spaltungen der Partei in den 1930ern. Führende Liberaldemokraten blieben einer wichtigen Brexit-Abstimmung im Parlament fern und basteln an einer neuen Partei der Mitte. Der frühere Chef der Scottish National Party (SNP), Alex Salmond, hat nach Vorwürfen sexueller Belästigung seine Partei verlassen, um ihr nicht weiter zu schaden, und setzt sich zugleich vor Gericht zur Wehr. Die Geschichte ist äußert unangenehm für die SNP-Vorsitzende und schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon. Nordirland wiederum hat seit fast zwei Jahren keine Regierung.

Nun nähert sich eine entscheidende Phase der Verhandlungen, und die EU muss eine Antwort formulieren, indem sie Premier Theresa May aus Sorge vor einem totalen Zusammenbruch der britischen Regierung eine Rettungsleine zuwirft. Bisher konnte sich May behaupten, weil die Alternativen noch schlimmer wären: Labour-Chef Jeremy Corbyn oder Mays Parteikollege Boris Johnson. May aber glaubt nicht wirklich an den Brexit, und Corbyns Begeisterung für die EU hält sich in Grenzen. Beiden Seiten fehlt es einfach an der notwendigen Überzeugung, um ihre Anhänger zu mobilisieren.

Daher ist jede Antwort auf die unvermeidliche Frage, was als Nächstes passieren wird, bestenfalls gewagt. Eine Möglichkeit ist, dass die Tory-Rechten am Ende in den sauren Apfel beißen und einem Deal mit der EU zustimmen, obwohl sie zutiefst dagegen sind. Umfragen zeigen einen allmählichen Meinungsumschwung zugunsten eines Verbleibs in der EU. Während 2016 das Referendum-Motto "Die Kontrolle zurückerlangen" überzeugend war, gewinnt derzeit die Parole der EU-Befürworter "Ist der Brexit die Mühe wert?" an Zuspruch.

Die Tory-Rechten erkennen: Prolongierte Verhandlungen bergen das Risiko, den Brexit für immer zu verlieren. Das übergeordnete Ziel ist es, im März aus der EU herauszukommen. Danach wieder zurückzugehen wird viel schwieriger.

Also Mission erfüllt und Thema abgeschlossen? Nicht wirklich. Das Brexit-Lager wird mit May nur widerwillig, wenn überhaupt, den Weg gemeinsam bis zum Austritt gehen. Dann beginnen die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen erst richtig, und die Tory-Rechten haben nicht die Absicht, das Austrittsabkommen zu erfüllen, wozu Geldzahlungen an die EU gehören, es sei denn, dies sichert britische Handelsinteressen.

Die EU könnte Großbritannien wegen Verstoßes gegen das Brexit-Abkommen Sanktionen auferlegen, doch das Land ist dann kein EU-Mitglied mehr, hat keine Stimmrechte zu verlieren und kann sämtliche Gerichtsurteile ruhig abwarten. Darüber hinaus kann nach britischem Recht jedes Parlament die Entscheidungen des vorherigen rückgängig machen. Das Ende ist nah und wird fortgesetzt.