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Finanzkapitalismus und neoliberale Theorien

Von Stephan Schulmeister

Gastkommentare

Finanzkapitalismus und Neoliberalismus gehören zusammen.


Replik auf Peter Rosners Beitrag "Worin Stephan Schulmeister irrt" vom 16. September 2018.


Peter Rosner untersucht zwei Thesen meines Buchs "Der Weg zur Prosperität". Erstens: Ist meine "Theorie der Ablenkung der Investitionen in spekulative Veranlagungen plausibel?" Zweitens: "Beruht die größere Bedeutung der Finanzmärkte auf willkürlichen politischen Entscheidungen in Folge einer ideologischen Verschiebung hin zu einer wirtschaftsliberalen Gesinnung?". Rosner "möchte zeigen, dass beides nicht zutrifft".

Allerdings unterstellt er mir, dass ich Finanzanlagen für grundsätzlich schlecht halte. Das wäre schon konzeptuell ein Unsinn, weil in einem funktionierenden kapitalistischen System Real- und Finanzkapital zwei Erscheinungsformen der gleichen Sache sind.

Nehmen wir die Prosperitätsphase als Beispiel: Auch damals haben die Haushalte Finanzanlagen gebildet, überwiegend Spareinlagen bei Banken. Wenn die Investitionskredit-Nachfrage der Unternehmen, also ihr Defizit, annähernd so hoch ist wie der Überschuss der Haushalte, dann wird ihr Sparen in Realkapital (und Arbeitsplätze) verwandelt. Nebeneffekt: Die Finanzanlagen der Haushalte sind durch Realkapital gedeckt und der Staat hat einen ausgeglichenen Haushalt. Die Summe aller Überschüsse und Defizite ist ja null.

Firmen und Finanzmärkte

Seit Anfang der 1970er Jahre wurde die Investitions- und Kreditnachfrage der Unternehmer immer schwächer, seit 15 Jahren haben sie Überschüsse: Sie nehmen (netto) nicht mehr Kredite auf, sondern akkumulieren selbst (netto) Finanzkapital. Wer aber hat nun jenes Defizit, das den Überschüssen der Haushalte und Unternehmer entspricht? Natürlich der Staat, denn nur einzelnen Ländern wie Deutschland kann es gelingen, das Defizit dem Ausland "anzuhängen" (durch permanente Überschüsse in der Leistungsbilanz).

Maßgeblich sind zwei Gründe: Massive Auf- und Abwertungen auf den Finanzmärkten ("Bullen" und "Bären") verursachen drastische Umwertungen von Vermögen, von den zwei Dollar-Abwertungen samt nachfolgenden Ölpreisschocks in den 1970ern bis zur Finanzkrise 2008. Zweitens haben die (großen) Unternehmen auch im langfristigen Trend ihre Gewinne stärker in "flüssigem" Finanzkapital angelegt. Denn in Realkapital ist Vermögen "eingefroren", hohe Investitionsbereitschaft erfordert daher ein Grundvertrauen in die Zukunft. Instabile Wechselkurse, Rohstoffpreise, Zinssätze und Aktienkurse haben aber die Unsicherheit erhöht - und zugleich auch die Profitchancen kurzfristiger Spekulation.

Rosner meint hingegen: "Dass Finanzanlagen heute wichtiger sind als vor fünfzig Jahren, ist eine Folge des inzwischen stark gestiegenen realen Reichtums - mehr Produktionsstätten, Immobilien, Einkaufszentren. Sie alle haben Eigentümer, (. . .) sind Rentiers. (. . .) Die Veranlagung bestehender Vermögen ist jedenfalls kein Thema für Schulmeister."

Diese Aussage verstört, weil genau das ein Hauptthema meines Buchs ist. Ich diskutiere ausführlich die Unterscheidung zwischen dem Verhalten von "value investors" und "schnellen Tradern" (bei John Maynard Keynes: "enterprise" versus "speculation"), aber auch die Rolle von Immobilieninvestoren. Und ich stelle eine Theorie der Spekulation vor, die das für Finanzmärkte typischste Merkmal erklärt: die Abfolge mehrjähriger, überschießender Kursbewegungen nach oben und unten (die herrschenden Theorien kennen nur explosive Preispfade nach oben - "bubbles").

Aktienhandel wie im Casino

Spekulation von Unternehmen ist für Rosner kein Problem: "Wenn also ein Unternehmen einen größeren Betrag in ein sehr spekulatives Wertpapier investiert, dann hat der Verkäufer oder die Ausgeberin diesen Betrag erhalten. Er muss wiederum angelegt werden. Es müsste also begründet werden, warum durch die Vergrößerung des Finanzvermögens dieses Unternehmens die Weiterleitung des Betrags über Finanzmärkte in den realen Sektor nicht funktioniert."

Diese Begründung ist ein weiteres Hauptthema meines Buchs. Vorweg: "Spekulative Wertpapiere" sind fast immer Derivate, bei denen gar nicht gekauft oder verkauft wird. Denn es handelt sich um Wetten, abgerechnet wird (täglich) nach dem Kursverlauf (wer richtig liegt, bekommt via Börse Geld vom Wettverlierer).

Bei den echten Aktien sieht die Sache so aus (Beispiel USA): Seit mehr als 30 Jahren sind die Rückkäufe eigener Aktien durch die Gesellschaften höher als die Neuemissionen, netto fließt also Geld aus den Unternehmen zu ihren Aktionären. Der Handel mit den bestehenden Aktien entspricht einem Casino, wo mit einer bestehenden Menge an Aktien Tauschgeschäfte gemacht werden, an Unternehmen fließt da gar nix.

Hayek und die Linken

Wenn Finanzanlagen der Haushalte und Unternehmen kaum noch den Weg zur Finanzierung der Unternehmen finden, wohin fließen sie dann? Natürlich in die Finanzierung der Staaten. Im Gegensatz zu vielen Keynesianern halte ich den Anstieg der Staatsverschuldung für langfristig untragbar, er kann aber nur systemisch bekämpft werden, indem unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft bessergestellt werden als "Finanzalchemie". Dazu mache ich konkrete Vorschläge.

Rosner meint, ich würde den Wechsel von den realkapitalistischen Systembedingungen der Prosperitätsphase zum Finanzkapitalismus mit einer Verschwörungstheorie erklären: Die 1947 von Friedrich von Hayek und 38 Mitstreitern gegründete Mont Pèlerin Society (MPS) habe "die ursprünglich keynesianisch orientierten Eliten - ein Ausdruck, den er [also ich, Anm.] oft verwendet - umgedreht". Sie seien "zum Liberalismus à la Hayek bekehrt" worden.

Richtig ist: Den Prozess der neoliberalen "Gegenreformation" behandle ich sehr detailliert, allerdings nicht als Verschwörung. Vielmehr hatten Hayek & Co. schon 1938 beim "Lippmann-Kolloquium" in Paris den Plan zur Organisation einer Gegenbewegung gefasst (und dort den Begriff des Neoliberalismus geprägt) und diesen Schritt für Schritt umgesetzt (von Hayeks "Weg zur Knechtschaft" aus de Jahr 1944 - dem neoliberalen "Katechismus" - bis zum Aufbau eines Netzwerks von Thinktanks). Hayeks Vorbild waren die Linken, insbesondere die sozialreformatorischen Fabianer, denen es Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb einer Generation gelungen war, die Köpfe von Intellektuellen und Künstlern zu erobern.

Eine Verschwörung samt Kommandozentrale etc. brauchte es nicht, nur gemeinsame ideologischen Ziele, die dann auf sehr unterschiedlichen Wegen von sehr unterschiedlichen Ökonomen begangen wurden (als Theoretiker liegen zwischen den "(Neo-)Österreichern" wie Hayek und den "Chicago Boys" wie Milton Friedman Welten).

Der Durchbruch gelang den "freedom fighters" zu Beginn der 1970er - aber nicht deshalb, weil ihre Forderungen nach Rückbau des Sozialstaats etc. populär geworden wären, sondern durch die Hintertür der Entfesselung der Finanzmärkte. Dafür hatten sie schon seit den 1950ern die theoretische Legitimation geliefert: Freie Märkte können nicht systematisch irren, erst recht nicht die freiesten aller Märkte. Destabilisierende Spekulation kann es daher gar nicht geben (Friedman 1953).

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