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Das verflixte 13. Jahr

Von Philip Plickert

Gastkommentare

Angela Merkels Kanzlerschaft erlebt eine zähe Spätphase, belastet durch die Spätfolgen der Flüchtlingskrise. Die schwarz-rote Koalition ist zerrüttet, Merkels Autorität erodiert.


Die schwarz-rote Koalition in Deutschland regiert erst seit einem halben Jahr, doch schon jetzt erscheint diese Zweckehe zerrüttet. Misstrauen, Ablehnung und ein rüder Ton herrschen auf allen Seiten. Angela Merkels 13. Jahr im Kanzleramt steht unter keinem guten Stern. Von einer "Großen Koalition" (GroKo) mag man angesichts der in den Keller gesunkenen Umfragewerte nicht mehr sprechen. Unionsparteien und Sozialdemokraten kommen derzeit zusammen auf gerade einmal 45 Prozent der Wählerstimmen: Die Union liegt bei 28 Prozent, die SPD ist mit 17 Prozent hinter die AfD zurückgefallen. Von der Schwäche von SPD und Union profitieren auf der anderen Seite die Grünen. Bei den nächsten Landtagswahlen in Bayern (14. Oktober) und Hessen (28. Oktober) droht den ehemaligen Volksparteien CSU, CDU und SPD ein Debakel.

Konfliktthema Nummer eins ist nach wie vor die Migrations- und Asylpolitik. Vor drei Jahren, im Herbst 2015, hat die Kanzlerin in einer einsamen Entscheidung die Grenzen für Asylbewerber geöffnet - ohne Rücksprache mit den EU-Partnern, nur Österreichs Kanzler Werner Faymann war eingeweiht. Merkels Politik der offenen Tür hat den Zustrom von Flüchtlingen und Migranten gewaltig verstärkt. 2015/2016 kamen weit mehr als eine Million Migranten vor allem aus dem islamisch-arabischen Kulturkreis nach Deutschland, die meisten ohne gültige Passdokumente. Identität und Herkunft konnten bei diesem Massenansturm kaum überprüft werden. Der Bundestag hat nie über diese Asylpolitik abgestimmt, renommierte Verfassungsrechtler zweifelten an der Legalität. Damit hat Merkel nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa gespalten, denn Osteuropa sperrt sich gegen eine erzwungene Verteilung der Migranten nach Quoten.

Extrem gereizte innenpolitische Befindlichkeit in Deutschland

Auch die Koalitionskrise um den Präsidenten des Bundesverfassungsschutzamts, Hans-Georg Maaßen, muss vor der Folie der Asylkrise gesehen werden. Maaßen gehörte zu jenen, die Merkels Politik offener Grenzen von Anfang an sehr kritisch gesehen hatten, die Chefs der Bundespolizei und des Auslandsgeheimdiensts BND waren ebenso besorgt. Der auch für Terrorabwehr zuständige Verfassungsschutz registriert inzwischen eine Rekordzahl von islamistischen Gefährdern, denen Terrorakte zugetraut werden.

Maaßen wagte sich dann vor zwei Wochen mit kritischen Interviewäußerungen zu den Vorfällen in Chemnitz hervor. In der sächsischen Stadt war ein Deutscher bei einem Stadtfest erstochen worden, zwei Asylbewerber aus dem Irak und Syrien sind tatverdächtig. Es kam zu aggressiven Demonstrationen, teils auch zu Attacken auf Ausländer. Maaßen bezweifelte aber, dass es "Hetzjagden" gegeben habe, wie zuvor die Kanzlerin behauptet hatte.

Der Streit wirft ein Schlaglicht auf die extrem gereizte innenpolitische Befindlichkeit in Deutschland. Innenminister Horst Seehofer, der CSU-Chef, stützte Maaßen ("vollstes Vertrauen"), die SPD forderte dessen Kopf. Nachdem die Kanzlerin den Daumen senkte, wurde er entlassen und zugleich zum Innenstaatssekretär befördert. Der faule Kompromiss, der die Koalition rettete, wurde in der deutschen Presse als politisches Schmierentheater bezeichnet, die SPD-Linke schäumt vor Wut und spricht schon offen über ein Ende der Koalition.

Was bleibt, ist Bitterkeit. In den Sicherheitsbehörden verrichten viele Mitarbeiter heute "ihren Dienst mit Faust in der Tasche", wie Ex-BND-Chef Gerhard Schindler kürzlich sagte. In der Öffentlichkeit haben immer neue "Einzelfälle" von durch Asylbewerber - meist mit Messern - Getöteten (die Opfer sind oft junge Frauen) zu einer erregten Debatte über ein schwindendes Sicherheitsgefühl und Integrationsprobleme geführt. Merkels "Wir schaffen das"-
Parole wird hämisch angezweifelt. Trotz bester Wirtschaftslage gibt es große Unzufriedenheit, Polarisierung bis hin zur Radikalisierung unter den Bürgern.

Merkel wird in die Geschichtsbücher eingehen als die "Flüchtlingskanzlerin". So wie Konrad Adenauer für die Westbindung nach dem Weltkrieg, Willy Brandt für die Neue Ostpolitik und Helmut Kohl für die Wiedervereinigung und die Einigung Europas stehen, so drückt die Flüchtlingskrise seit 2015 Merkels Kanzlerschaft den historischen Stempel auf. Andere politische Großthemen ihrer Regierungszeit verblassen dagegen, etwa die Euro-Krise oder die abrupte Energiewende.

Beweglichkeit und ideologische Flexibilität der Kanzlerin

Allerdings zeigen all diese Fälle die Beweglichkeit und ideologische Flexibilität der Kanzlerin. Es ist einerseits eine große Stärke, die ihr politisch schnelle Wenden erlaubt. Zum Beispiel erst pro Atomkraft, dann ein abrupter Ausstieg nach dem Atomunfall in Japan 2011. In der Euro-Krise hat sie sich durchgewurstelt und ordnungspolitische Grundsätze wie die "No Bail-out"-Klausel des Maastricht-Vertrags hintangestellt, gleichzeitig ihren Zickzack-Kurs als "alternativlos" dargestellt und durchgepeitscht.

Merkel hat von SPD und Grünen Themen übernommen, die CDU somit sozialdemokratisiert und vergrünt; sie war damit viele Jahre machtpolitisch erfolgreich. Ihr Traumpartner nach der Bundestagswahl vor einem Jahr waren die Grünen. Weil die FDP die Verhandlungen für eine schwarz-grün-gelbe "Jamaika"-Koalition platzen ließ, entstand die neue ungeliebte "GroKo".

Aber die "Offenheit" der Union geht weiter. Schon fragt Daniel Günther, Ministerpräsident im hohen Norden und Merkel-Anhänger, ob nicht auch Koalitionen mit der Linkspartei - den Nachfolgern der DDR-Staatspartei SED - im Osten denkbar seien. Damit würde ein letztes Tabu fallen.

Merkel ist die eigentliche Mutter der Protestpartei AfD

Pragmatismus, der bis zur Beliebigkeit reicht, ist auf Dauer eine Schwäche. Merkel, seit 15 Jahren CDU-Chefin, hat ihre Partei ideologisch entkernt. Durch die Linksverschiebung ist ein Vakuum rechts der CDU entstanden, das auf Dauer nicht leer bleiben konnte. In die Lücke sprang die AfD. Merkel ist somit die eigentliche Mutter der Protestpartei. Die Etablierung einer starken Konkurrenz von rechts wird ein bleibendes, strukturelles Problem für die Union. Entstanden als Professorenpartei gegen den Euro-Rettungskurs, brachte die Flüchtlingskrise der AfD das Erregungsniveau, das sie in Umfragen bis auf 18 Prozent hebt.

Besonders die CSU erfährt schmerzlich, dass sie nun auch von rechts in die Zange genommen wird. Mit Schrecken blickt sie auf die Umfragen zur Landtagswahl. Wenn es schlecht läuft, stürzt sie auf 35 Prozent ab. Neue Konflikte in der "GroKo" sind absehbar, die Merkels Kanzlerschaft weiter belasten. Ihre Autorität ist angekratzt seit dem brutalen Streit mit Seehofer, der im Sommer fast zum Bruch der Allianz der Schwesterparteien führte.

Ob Merkel bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 regiert (sie käme dann wie einst Kohl auf 16 Kanzlerjahre) oder vorher abtritt (nicht ausgeschlossen ist 2019 ein Wechsel nach Brüssel an die EU-Kommissionsspitze) - die Bilanz ihrer Kanzlerschaft erscheint höchst durchmischt: Ihre eigene Partei ist desorientiert und verletzt, Deutschland ist polarisiert und aufgewühlt, ganz Europa durchziehen Spannungen.

Vom einstigen Mutti-Image der Kanzlerin, die den Deutschen die Probleme vom Hals fernhält, ist wenig geblieben.