Zum Hauptinhalt springen

Solidarität - ein schwacher Begriff mit viel Potenzial

Von Michael Wimmer

Gastkommentare

Mit wem können, wollen beziehungsweise müssen wir in Zukunft solidarisch sein?


Ein Spaziergang durch die spätsommerliche Salzburger Landschaft macht unmittelbar deutlich, welchen Zugewinn an Wohlstand viele Menschen in den vergangenen Jahren erfahren haben. Da reihen sich schmucke Häuser aneinander; daneben erheben sich Kräne, um die nächsten Bauvorhaben in eine idyllische Landschaft zu setzen, in der nichts mehr vom Kampf früherer Generationen erzählt, die der Natur mühsam ihre Lebensgrundlagen abgerungen haben.

Alles in bester Ordnung, könnte man meinen; den Menschen geht es so gut wie nie zuvor, und sie können ihre privilegierten Lebensverhältnisse in vollen Zügen genießen. Das tun sie aber nicht. Es grassiert die Angst, der erreichte Wohlstand könnte schon bald wieder verloren gehen. Verantwortlich gemacht werden die, die es nicht so weit gebracht haben und jetzt nach Österreich drängen. Ihnen wird unterstellt, sie würden sich all das nehmen wollen, was man sich selbst geschaffen hat: In der Rollenzuschreibung als Ausländer, Fremde oder Flüchtlinge werden sie nur zu rasch zu Gruppen zusammengefasst, gegen die man sich mit allen gebotenen Mitteln zur Wehr setzen muss.

"Warme" und "kalte" Assoziationen

Aber wo und zu welchem Anlass erfahren die Bewohner dieses Wohlstandsidylls eigentlich noch so etwas wie Solidarität? Kirche und traditionelle politische Parteien haben ihre Ansprüche auf eine solidarische Vergemeinschaftung zunehmend aufgegeben und sind in unterschiedlicher Intensität auf den neoliberalen Zug der Individualisierung ("Jeder ist seines Glückes eigener Schmied") aufgesprungen. Die Indizien einer kollektiven Vereinzelung bedeuten aber nicht, dass der Begriff der Solidarität seine positive Aufladung verloren hätte. Solange man nicht genau sagen muss, was man darunter versteht, eignet er sich weiterhin gut für Sonntagsreden.

In seiner großen Studie "Solidarität und Solidarismus" begibt sich Hermann-Josef Große Kracht auf eine historische Spurensuche und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht ein Solidarismus als "dritter Weg" jenseits von Individualismus und Kollektivismus. Zwischen unbeschränkter Freiheit kapitalistischen Wirtschaftens und der Unterordnung unter das Fantasma beliebiger Planbarkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens schafft er die wesentlichen solidaritätstheoretischen Grundlagen für den modernen Wohlfahrtsstaat. Wenn Große Kracht auf "warme" und "kalte" Assoziationen zum Solidaritätsbegriff hinweist, so verbindet er das spezifisch "Warme" mit einem Gefühl von Mitgefühl für die Armen und Schwachen und einem dementsprechenden Zusammenhalt für ein gelingendes Zusammenleben. Diese Dimension konnte im Kontext der "Willkommenskultur" gut ausgelebt werden.

Im Unterschied dazu ortet er im Solidarismus eine Hinwendung zu einer moral- und tugendfreien Ausgestaltung von Solidarität, die sich im Rahmen unerbittlich geltender Naturgesetze auf einen streng sozialwissenschaftlichen Begriff bringen lassen sollte. Aber lassen sich ursprünglich für das industrielle Zeitalter konzipierte Solidaritätsvorstellungen in eine gleichermaßen global und digital ausgerichtete Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft hinüberretten, in der die Lebensverhältnisse zunehmend auseinanderklaffen?

Zusammenschlüsse vonsozial Benachteiligten

Vermutlich werden sich die Bedürftigen von heute selbst auf die Suche nach neuen Solidargemeinschaften machen müssen. Zusammenschlüsse von sozial Benachteiligten waren immer schon die Voraussetzung dafür, gemeinsam erkannte Interessen in einem solidarischen Gefüge zu artikulieren und institutionell durchzusetzen. Jede Version der Geschichtsinterpretation erzählt uns, dass Solidarität immer ein Ergebnis von Kämpfen war, die erst ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entstehen lassen. Diesen kämpferischen Gestus orte ich allerdings nicht bei denen, die Beistand in besonderer Weise brauchen, sondern bei denen, die glauben, als isolierte Individuen nur noch verlieren zu können.

Mit wem können, wollen beziehungsweise müssen wir in Zukunft solidarisch sein? Welche Loyalitäten zählen mehr: die mit den "eigenen Leuten", die in ihrem Idyll etwas zu verlieren haben, oder die mit den "Fremden", wo immer sie herkommen? Mit dieser Frage wird heute Politik gemacht. In diesem Zusammenhang ist es fast schon erstaunlich, dass im Vorschlag zu einem neuen Parteiprogramm der SPÖ dem Thema "solidarische Welt" noch einmal großer Raum eingeräumt wird. Dass die eigenen Parteifreunde den Vorsitzenden damit auch gleich wieder desavouieren, zeigt die unterschiedlichen Vorstellungen von Solidarität selbst innerhalb von Parteigrenzen.

Solidarität mit den aktuellen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in Beziehung zu setzen, macht vorerst wenig Sinn: Flüchtlinge und Migranten vertreten fürs erste keine spezifischen Interessen außer denen, als Menschen behandelt zu werden.

Dazu aber braucht es - wie Caritas-Präsident Michael Landau meint - gar keine Solidarität; es genügt Zivilisiertheit. Alles andere ist Barbarei.

Zum Autor