Zum Hauptinhalt springen

"Gut und böse, richtig und falsch"

Von Heinz Fischer

Gastkommentare

Je mehr Menschen akzeptieren, dass das Gute stets auch mit dem Bösen einhergeht, umso reifer ist eine Demokratie.


Böses in der Politik entsteht in der Welt nicht, weil es allzu viele böse Menschen gibt, die Böses wollen.

So einfach ist das nicht.

Böses in der Politik entsteht viel eher, weil allzu viele Menschen glauben, im alleinigen Besitz der Wahrheit, des Guten und des Richtigen zu sein, und sich daher berechtigt - vielleicht sogar verpflichtet -fühlen, andere Menschen, die anderes für wahr, gut oder richtig halten, zu "bekehren", beiseite zu drängen oder zu bekämpfen.

Und da bei einer solchen Auseinandersetzung - zumindest subjektiv - sehr viel auf dem Spiel stehen kann, fühlt man sich berechtigt (vielleicht sogar verpflichtet), "alles" einzusetzen, um der guten und richtigen Sache zum Sieg zu verhelfen. Damit sind wir bei der Wurzel des problematischen Grundsatzes, wonach der Zweck die Mittel heiligt, und ich glaube, es gibt nur wenige Maximen und Verhaltensweisen, die so gefährlich und problematisch sind wie dieser Grundsatz.

Zum Schutz der Revolution

Nehmen wir das Stichwort "Kommunismus": Der Kommunismus (Bolschewismus), der 1917 in Russland gegen den Zarismus siegreich war, hatte sicher nicht die Absicht, eine Einmanndiktatur in der Person von Josef Stalin zu errichten, Millionen Kulaken (Bauern) verhungern zu lassen, Menschenrechte zu vernichten und in der zweiten Hälfte der 30er fast die gesamte Parteiführung aus der Gründungszeit der Sowjetunion erschießen zu lassen. Aber obwohl Lenin (der ja selbst auch alles andere als zimperlich war) vor zu viel Macht in Stalins Händen warnte, waren der Bürgerkrieg in der Sowjetunion und der Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution so erbittert, dass man sich, um die Revolution zu schützen, zu immer mehr Machtkonzentration gezwungen sah. Und sogar Leo Trotzki, der den Machtkampf gegen Stalin verlor und im Exil von einem Agenten Stalins ermordet wurde, machte sich in den 20ern über die Sozialdemokraten in Deutschland lustig, die eher bereit gewesen seien, im Klassenkampf zu unterliegen, als die Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages zu verletzen.

Aber das Prinzip, wonach der Zweck die Mittel heiligt, verlangte immer aufs Neue und in gesteigerten Dosen, ein Übel in Kauf zu nehmen, um damit ein (vermeintlich) noch größeres Übel zu bekämpfen. Und auch nicht jeder, der in Deutschland in den 20ern einen Stimmzettel für Adolf Hitler und seine NSDAP in eine Wahlurne geworfen hat, wünschte die Errichtung von Gaskammern und den Tod von sechs Millionen Juden. Aber Hitler versprach Deutschland wieder groß zu machen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und den Kommunismus zu überwinden. Das war ein hartes Stück Arbeit, und wenn man hart arbeiten und kämpfen muss, dann fliegen eben die Späne, sagten die Nazis.

Und diese "Späne" waren am Anfang nur "Kleinigkeiten", wie der Verstoß gegen politische Spielregeln oder ein auf schon vorhandenen Vorurteilen aufbauender Antisemitismus, aber bald darauf war es psychische und physische Gewalt, dann der Bruch von Gesetz und Verfassung, und bald war es nicht mehr weit zum Terror der Gestapo, zu Konzentrationslagern und zum Beginn eines Krieges mit der "Rechtfertigung", dass Stalin Deutschland überfallen hätte, wenn nicht die Deutschen dieser Gefahr zuvorgekommen wären.

Wenn man sich auf diesen Teufelskreis, wonach der Zweck die Mittel heiligt, einlässt, kommt man in einen Sog, aus dem man sich nicht mehr befreien kann.

Das waren Beispiele aus totalitären Systemen, könnte man an dieser Stelle einwenden. Aber Amerika ist eine Demokratie und kein totalitäres System. Und doch beruhte etwa der gewaltige und massenhaft Menschenleben vernichtende Einsatz der US-Army in Vietnam auf einem ähnlichen verhängnisvollen Grundsatz, wonach man den Krieg in Vietnam führen musste, um einer (falschen) "Dominotheorie" rechtzeitig entgegenzuwirken.

Viele junge Menschen stellten die Frage, ob man die Prinzipien des Humanismus und der Menschenrechte mehr als 10.000 Kilometer außerhalb der Grenzen der USA verteidigen kann, wenn sich im Arsenal der Verteidiger des Humanismus und der Menschenrechte, Methoden der Barbarei und Brandbomben befanden, denen tausende Kinder zum Opfer fielen.

Wie wir heute wissen, ist diese Rechnung nicht aufgegangen, und der damalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara hat das später auch eingesehen und einbekannt. Dieses Problem - nämlich das richtige Abwägen und Abschätzen des Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel - ist kein neues Problem. Es existierte in allen Phasen der Geschichte und auch heute.

Wie also Theorie und Praxis, Moral und den Zwang, sich für das "kleinere" Übel zu entscheiden auf einen Nenner bringen?

Friedrich Nietzsche versuchte eine Lösung in der Richtung zu finden, dass zwar im Kleinen, Alltäglichen die Grundsätze der Moral genau einzuhalten seien, nicht aber im Großen, Gewaltigen, wo der Zweck sehr wohl die Mittel heiligt. "Wenn die Zwecke groß sind, wendet die Menschheit ein anderes Maß an und richtet das Verbrechen nicht mehr als solches, selbst wenn es sich der entsetzlichsten Mittel bedient." Aber diese Haltung bringt keine Lösung, wie die eingangs erwähnten Beispiele gezeigt haben.

Die Aufklärung und die Menschenrechte versuchen eine andere Antwort: Jene des Vorranges der unantastbaren Menschenwürde vor anderen Zielen und Werten. Aber gerade die Französische Revolution, die sich auf Menschenwürde zu stützen versuchte, zerstörte das Leben Unschuldiger. "Niemand kann regieren, ohne schuldig zu werden", so die Formel, auf die Louis Antoine de Saint-Just seine Erfahrungen brachte.

In der Praxis kann man diesen Spannungen am ehesten entkommen, wenn es eine stabile, rechtsstaatliche Demokratie gibt, in der Entscheidungen über Fragen "auf Tod oder Leben" oder "über alles oder nichts" gar nicht auf der Tagesordnung stehen.

Demokratie verträgt sich nicht mit Ausnahmezustand und Ausnahmezustand nicht mit Demokratie. Die Demokratie verändert den Lauf der Geschichte evolutionär und nicht revolutionär. Es fällt mir nicht ganz leicht, den Satz zu schreiben, dass Revolution und Menschenrechte miteinander nicht vereinbar sind, aber ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser Satz wahr ist und von der historischen Praxis bestätigt wird. Gerade deshalb muss durch laufende Reformen der Gesellschaft das Entstehen einer Situation verhindert werden, in der nur mehr Revolution und Gewalt Abhilfe schaffen können. Dafür ist ein Mindestmaß an Zusammenarbeit in den Parlamenten, ein Mindestmaß an politischer Kultur und ein Minimum an allgemein anerkannten Spielregeln erforderlich.

Annäherung an die Wahrheit

Die jeweilige Mehrheit muss wissen, dass Macht nur auf Zeit übertragen wird und dass das Abgeben der Macht in der Demokratie mit gleicher Selbstverständlichkeit stattfinden muss, wie das Gewinnen der Macht. Und je weniger Menschen glauben, dass das Gute, Wahre und Richtige nur auf der einen Seite der Gesellschaft und das Böse und Falsche nur auf der anderen Seite anzutreffen ist, umso reifer ist eine Demokratie.

Ein Kernsatz von Karl Popper zum Thema offene Gesellschaft lautet: "Ich kann recht haben und du kannst irren, und du kannst recht haben und ich kann irren, aber gemeinsam werden wir uns der Wahrheit annähern."

Gegen diesen Grundsatz einer pluralistischen Demokratie wird häufig verstoßen, und zwar vor allem von Leuten, die auf dem Weg zu einer illiberalen Demokratie sind und glauben, dass sie immer und überall recht haben. Wie sagte doch ein österreichischer Innenminister vor wenigen Wochen im Parlament wörtlich? "Ich habe recht, und Sie haben unrecht." Wollen wir wirklich eine "illiberale Demokratie" und kann es eine solche überhaupt geben - oder wäre sie dann eben keine Demokratie mehr?