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Die Affäre Waldheim als Turning Point

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

Österreich und der Angriff durch die Wahrheit.


Die Wiederbegegnung mit der Affäre Waldheim in Ruth Beckermanns neuem Film eröffnet einen anderen Blick auf diese Vergangenheit.

Die österreichische Nachkriegsgesellschaft war eine Gesellschaft, die sich nicht mit allen Stadien ihrer Geschichte identifizieren konnte - im Sinne einer heroischen oder glorreichen Vergangenheit. Dieses Nicht-Identifizieren, diese partielle Amnesie lag wie eine Schockstarre über dem Land. Und die Umdeutung zum ersten Opfer Hitlers brachte da nur vordergründig eine Erleichterung. In dieser Situation war die Waldheim-Affäre ein Turning Point eigener Art.

Indem die Tatsache, dass Österreicher den Nationalsozialismus massiv mitgetragen und überproportional viele Täter gestellt haben; indem diese Tatsache als eine von außen an das Land herangetragene diskreditiert wurde; indem sie als eine oktroyierte, eine Fremdinterpretation denunziert wurde - konnte sie abgewehrt werden. Das Befreiende für die Waldheim-Wähler war, dass dieser Angriff durch die Wahrheit durch den World Jewish Congress erfolgte - durch die "Ostküste" wie das antisemitische Understatement damals lautete - und sie ihn so als fremdes Eingreifen, als äußere Einmischung abtun konnten.

Dazu kam noch, dass Waldheim selbst ihnen ein Narrativ angeboten hat, um sich positiv auf die eigene Vergangenheit zu beziehen: als militärische Pflichterfüller. War das das Ende der Opferthese? Ja das war es. Ab nun brauchten sich die "echten" Österreicher nicht mehr als Hitlers erste Opfer darstellen, um sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen. Sie konnten selbstbewusst als anständige Soldaten, als aufrechte Pflichterfüller auftreten.

Waldheim und die damalige - unverhohlen antisemitische - ÖVP haben 53 Prozent der österreichischen Bevölkerung ermöglicht, sich erstmals nach dem Krieg wieder ungeschoren und ungebrochen mit der ganzen eigenen Geschichte zu identifizieren. Hier wurde die Amnesie nicht im Sinne einer Aufklärung überwunden, sondern im Sinne eines ungehemmten Zulassens, eines "schuldbefreiten" Anerkennens des Geschehens. Waldheim hat den Österreichern die Möglichkeit geboten, sich ohne schlechtes Gewissen auf ihre Geschichte zu beziehen. In diesem Licht ist auch der unmittelbar nachfolgende Aufstieg Jörg Haiders zu sehen. Dass Waldheim dann ein gänzlich isolierter Präsident war, war ein geringer Preis für den Mehrwert, den diese Affäre geliefert hat.

Die Gegenseite hingegen, jene, die gegen Waldheim protestierten, konnte zwar dessen Wahl nicht verhindern - aber sie hat dazu beigetragen, das Land zu lockern, zu modernisieren, zu lüften von diesem Mief, der einem aus jedem Archivbild entgegenweht. Die heute so oft zitierte Zivilgesellschaft hat sich damals formiert. Und sie hat sich seit damals immer wieder artikuliert. Es folgte: das "Konzert für Österreich", das "Lichtermeer", die Massenkundgebung gegen Schwarz-Blau. Diese Aufzählung ist eindrucksvoll und deprimierend zugleich. So viel formierte politische Energie, so massive Artikulationen, so große Auftritte - die offenbar so oft und immer wieder nötig waren. Und sind. 2018 wie 2000. Letzten Donnerstag gab es die erste Neuauflage der Donnerstags-Demos.