Zum Hauptinhalt springen

Requisiten aus der Vergangenheit

Von Zoltan Peter

Gastkommentare

Die Welt- und Gottbeziehungen von Jugendlichen.


Die Debatten über muslimische Jugendliche nehmen scheinbar kein Ende, und das ist an sich nichts Schlechtes. Denn bevor man irgendetwas in ihrem Leben übereilig verbietet, was man vielleicht später bereut, sollte man sich zuvor gründlich und verlässlich informiert beziehungsweise eine ausgiebig und breit angelegte Debatte geführt haben.

Das mag zwar wie eine Binsenweisheit klingen, doch kein Weg führt daran vorbei, sofern eine angemessene und verallgemeinerbare Regelung einer komplexen Angelegenheit das Ziel sein soll. Und die derzeitigen Bedingungen, um beispielsweise zu bestimmen, wie man mit Diversität künftig umgehen soll, scheinen im Moment etwas besser zu sein als vor zehn Jahren. Erstens, weil der aktuelle Informationsstand zum Thema Lebenseinstellungen der Zuwanderer etwas ausgewogener geworden ist, und zweitens, weil es auf dem Gebiet nun etwas weniger Tabus gibt. Doch Vermutungen, Stereotype und Vorurteile gibt es leider immer noch genug.

Zu den Vorurteilen, die sich bis heute hartnäckig halten, gehört zum Beispiel jenes, dass in den Ländern Westeuropas und auch in Österreich der familiäre und schulische Umgang mit Kindern zu liberal, zu modern sei und daher keinen Respekt verdiene - ja, das existiert. Auf der anderen Seite hört und liest man oft, die Österreicher seien überdurchschnittlich rassistisch und hätten aus der Geschichte nichts gelernt. Und nicht weniger hartnäckig hält sich auch das Vorurteil, laut dem frisch zugewanderte junge Männer aus dem Nahen Osten mehrheitlich problematische Einstellungen hätten und tief religiös, daher unintegrierbar seien - auch das existiert.

Die neue Periode

Schaut man sich die Dinge jedoch etwas genauer an, so ist zu sehen, dass man es bei den erwähnten Angelegenheiten mit unhaltbaren Konstruktionen zu tun hat, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben; in einer alles für legitim haltenden Geisteshaltung. Ja, es war ein Trend, der sehr, fast unausweichlich modern war. Es lässt sich vermuten, dass die genannte, eher paternalistische als kritische Periode, in der etwa sensible Fragen an die Migration äußerst ungern gestellt wurden, etwas zu lange dauerte. Dieses intellektuell (und nicht politisch!) zu lange Vernachlässigte könnte eine der Ursachen für die verstärkte und schlagartig zum Vorschein getretene Aggressivität der in den Medien und in der Politik geführten Debatten sein.

Doch jene "postmoderne" Zeit gehört (mit ihren Vor- und Nachteilen) der Vergangenheit an. Inzwischen gibt es zahlreiche Studien, die sich mit dem Thema der Einstellungen und Wertvorstellungen der Einwanderer ausgiebig beschäftigen und die genannte Informationslücke etwas kompensiert haben. So wissen wir heute selbst über Jugendliche, die vor kurzem eingewandert sind, bereits einiges mehr, als wir je zuvor über alteingesessene Migranten gewusst haben. Und das vorwiegend dank des Beitrags engagierter Akteure, besonders muslimischer Herkunft, die das "Eigene" verstärkt und kritisch unter die Lupe genommen haben. Die Situation scheint manchmal dennoch aussichtslos zu sein. Insbesondere dann, wenn ein Buchtitel - wie vor kurzem der "Kulturkampf im Klassenzimmer" - in den Schlagzeilen landet. Und nicht, weil die in dem Buch thematisierten Inhalte "Fake News" wären, sondern weil man mittlerweile weiß, welche Wellen ein derartiger Titel schlagen kann. Obwohl das zitierte Buch sich höchstens für einige pädagogische Maßnahmen eignet, glauben scheinbar viele, es könne statistische Zwecke erfüllen. Nein, das kann es nicht. Dazu gibt es andere Studien.

Die Sache mit der Identität

So zum Beispiel eine Studie, die vor kurzem im "Standard" online unter dem Titel "In Österreich leben mehr Orthodoxe als Muslime" publik gemacht wurde. Aus der in dem Artikel zitierten Studie geht hervor, dass von 800 befragten Flüchtlingen "91,3 Prozent (...) die Demokratie für die ideale Staatsform halten und 84,8 Prozent die Trennung von Staat und Religion befürworten".

Aber lassen wir vorerst die Statistik beiseite und schwenken den Fokus auf den im oben zitierten Artikel angeschnittenen Sachverhalt, dass es in Österreich nicht nur muslimische, sondern auch andere religiöse und ethnische Gruppen gibt; viele verschiedene Menschen, die sich darin einig sind, dass die Frage der ethnischen und religiösen, also kollektiven Identität sehr wichtig ist. Lebenswichtig!

Es gibt allerdings gute Gründe anzunehmen, dass zwischen Jugendlichen, die Mitglied oder aktive Besucher eines stark ethnisch oder religiös orientierten Vereins sind, und jenen, die sich davon fernhalten, unterschiedliche Einstellungen herrschen, ganz egal, um welche Religionsgemeinschaft oder ethnische Gruppe es da geht. Und unsere eigenen laufenden Studien mit Jugendlichen, deren Ergebnisse am 6. Dezember präsentiert werden, zeigen, dass der Erziehungsstil der Eltern die Toleranzeinstellungen der Jugendlichen entscheidend prägt.

Und dort, wo die Jugendlichen einer ethnischen oder religiösen Indoktrinierung stark ausgesetzt waren - wenn sie als Kleinkinder tagein, tagaus nichts anderes hörten als etwa: "Kind, dein Herz gehört der Nation X oder der Religion Y, ob du willst oder nicht" - und noch Inhalte und Ideologien dazukommen, die in einem Kindergarten, einer Schule oder einem Verein angeboten werden, die mit den zitierten Inhalten der Erziehung kompatibel sind, haben wir es mit derart starken nationalen oder religiösen Identitäten, mit einem dermaßen überhöhten ethnischen Stolz zu tun, gegen die die in österreichischen Schulen angebotene Pädagogik kaum eine Chance hat.

Alternativwelten sind gefragt

Ob nun dieses Problem 10 oder 20 Prozent oder mehr Jugendliche betrifft, sollte bald geklärt werden, aber es gibt noch zahlreiche andere offene Fragen. Zum Beispiel, wie die geschilderte Problematik effektiv zu lösen wäre. Denn Indoktrinierung im obigen Sinn, die oft zu einer Europa-entfremdeten Identität führt, die nicht nur den Schulalltag, sondern das Zusammenleben insgesamt nicht leichter macht, ist offensichtlich nicht nur bei den Minderheiten und hier nicht nur bei Muslimen zu finden. Insofern ist ihr eigener Eindruck, dass nur noch ihre Welt- und Gottbeziehungen thematisiert werden, nicht ganz falsch. Daraus lässt sich folgern, dass man sich mit den Jugendlichen in der Schule über die Unzulänglichkeiten einer zu breit angelegten kollektiven Identität verstärkt auseinandersetzen sollte.

Kinder und Jugendliche brauchen in vielen Fällen Alternativwelten, und die Schule ist hierzulande per se eine der Instanzen, die in der Lage ist, familiäre Erziehungsmodalitäten zu formen, so manches zu unterbinden und anderes zu fördern. Es bedarf scheinbar doch dringender Unterrichtsfächer, wo Kinder und Jugendliche etwas mehr über sich selbst und über die Welt erfahren. Denn so naiv es klingen mag, für einen Teil der Jugendlichen wäre es geradezu ereignishaft prägend, im Zuge eines spannenden Unterrichts mitzubekommen, dass eine allzu überschwängliche nationale oder religiöse Identität kein Heilsversprechen ist, sondern etwas höchst Problematisches, Blockierendes ist.

Zum Autor