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Sozialdemokratische Kernschmelze

Von Franz Schandl

Gastkommentare

Die Bilanz einer Ära, die keine gewesen ist.


Wer hätte das gedacht? Vor zwei Jahren noch erklomm der Quereinsteiger Christian Kern gleich einem "Messias aus dem Musterknabenkatalog" das Kanzleramt und den SPÖ-Vorsitz. Doch schon im Herbst 2017 war das Intermezzo als Regierungschef Geschichte. Der ehemalige ÖBB-Chef hatte die Nationalratswahl gegen Sebastian Kurz verloren und versuchte sich fortan als glückloser Oppositionsführer. Da wollte kein Wind aufkommen, von neuerlicher Euphorie ganz zu schweigen. Schnell war ein Hoffnungsträger an sein Ende gelangt. Der völlig tollpatschige Abgang in zwei Etappen komplettierte noch den tiefen Fall. Zum Schluss erschien der Macher als beleidigtes Männlein.

Manchmal trat Kern geradezu stümperhaft auf, vor allem in taktischen Fragen war er alles andere als sattelfest. Ein Schnitzer folgte dem nächsten. Selten durchschlagkräftig, manchmal geradezu feig. Einige Male versäumte er die Chance, Neuwahlen anzusetzen und seinerseits die Turbulenzen in der ÖVP (die bereits auf unter 20 Prozent abgesackt war) auszunutzen. Selten hat einer in so knapper Zeit so oft seine Ankündigungen gebrochen wie Kern. Das war nicht zu kaschieren, das war offensichtlich. Der Missmut war den Seinen ebenso anzumerken wie ihm selbst.

Kern unterlag Kurzauf dem politischen Parkett

So richtig angekommen in der Politik ist Christian Kern nie. Trotz des stets betonten "Ich bin ein Arbeitersohn aus Simmering" war er kein Kind der Partei, man fremdelte. Wobei da nun niemand eine Verschwörung angezettelt hatte, es war vielmehr eine heimliche wie unheimliche Meuterei auf allen Decks, die den SPÖ-Chef zu Fall brachte. Das ständige Murren zeitigte große Folgen. Als er sich dann auch noch beim ersten Teilrücktritt selbst zum Spitzenkandidaten der SPE bei der EU-Wahl ausrief, reichte es den Genossen endgültig. Und nicht nur ihnen, sondern einige Tage später auch ihm selbst. Er stolperte regelrecht ins Out. Kern war aber nicht Motor der Krise, sondern lediglich der Keilriemen. Von der Episode Kern wird in der SPÖ nicht viel hängen bleiben, weniger als von seinem Vorgänger Werner Faymann, der sich zumindest acht Jahre lang in den Ämtern gehalten hat.

Seltsam unprofessionell war das. Gerade auf dem politischen Parkett erwies sich Sebastian Kurz im Gegensatz dazu als Profi und somit als überlegen, da mag Kern intellektuell noch so viel mehr auf dem Kasten haben, das interessiert kaum. Ob der Aufstieg des Kontrahenten substanzieller Natur ist, darf bezweifelt werden. Manche medialen Blasen halten sich länger als andere. Das Einzige, was Kurz bisher vorzuweisen hat, ist sein Wahlerfolg. Der war, genau betrachtet, gar nicht so groß, aber für die ÖVP-Granden doch ausreichend, sich dem Youngster auszuliefern. Die ÖVP ist nicht weniger marod als die SPÖ. Ein wichtiger Unterschied zwischen Kern und Kurz war auch einer der mentalen Haltung: Kern hatte Skrupel, Kurz weiß nicht einmal, dass er keine hat.

Die SPÖ steckt in einer verfahrenen Situation

Es ist nicht nur eine heikle Situation, in der die SPÖ nun steckt, es ist eine verfahrene. Fast beschleicht einen das Gefühl, dass jede Aktivität nach hinten losgeht. So ist es wiederum kein Wunder, dass auf Drängen der Wiener SPÖ sogar die groß angekündigte Statutenreform zurückgenommen wurde. Weitermachen wie bisher geht allerdings auch nicht. Nicht nur Kern wurde demontiert, sondern die ganzen Kern’schen Vorhaben (gegen unbegrenzte Mandatsdauer, gegen Ämterkumulierung und Mehrfachbezüge, aber für höhere Solidaritätsabgaben, Urabstimmungen in der Partei, Einführung provisorischer Parteimitgliedschaften) wurden auf Eis gelegt. Dass sich erst im Juni bei einer Befragung 70 Prozent der SPÖ-Mitglieder dafür ausgesprochen hatten, interessiert nun auf einmal nicht mehr. Der Apparat will nicht.

Freilich hat der Apparat wiederum nur Chance, Apparat zu bleiben - der "Regierungspartei" SPÖ macht der Verlust der Regierungsämter immens zu schaffen -, wenn er sich seiner Führungsfigur ausliefert. Auch wenn nichts funktioniert - das Starprinzip muss funktionieren. Von der Medienindustrie getrieben, kennt der politische Alltag keine Verschnaufpause mehr. Politik gleicht dem Hamsterrad. Wer nicht läuft, fällt durch das Gitter, und wer läuft, kommt auch nicht weiter. Wozu Akzente setzen, wenn umfallen leichter ist? Die religiöse Betonung der sozialdemokratischen Grundwerte gleicht hingegen hilflosen und gedankenlosen Stoßgebeten. Das sind Werbereflexe zunehmender Desorientierung.

Die etablierten Parteien werden zu einstürzenden Altbauten

Die Verschärfung des politischen Treibens ist nicht nur ein Kennzeichen der Rechten. Sie wird ebenso in der linken Mitte gepflegt. Denken wir etwa an die zunehmend restriktiven Vorschläge in der Ausländerpolitik. Die aktuell noch unter Kern beschlossenen Leitlinien zur Migrationsfrage sind eine Light-Ausgabe des Regierungsprogramms von ÖVP und FPÖ. Die SPÖ gibt damit implizit zu, dass sie im Prinzip nichts anderes möchte, als die anderen bereits vorgezeigt haben. Die Differenz ist minimal, einige Rechtsausleger in der Sozialdemokratie (wie etwa der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl) überholen Schwarz-Blau gelegentlich rechts außen. Locker.

Die Kernschmelze der etablierten Parteien, nicht nur der SPÖ, schreitet hurtig voran. Zusehends werden sie zu einstürzenden Altbauten, zu geradezu tragikomischen Gebilden, wo Eigeninteressen, PR-Strategien und Realitäten ständig kollidieren. Immer mehr Politiker flüchten aus der Politik. Der Rückhalt zerbröselt, oder besser gesagt: Er wird zu einer rein konjunkturellen Größe. Bei der SPÖ war das bis vor einigen Jahren weniger auffällig, da die Partei eine Geschlossenheit simulierte, die sie nicht hatte, ganz ähnlich übrigens der ÖVP seit Kurz’ Amtsantritt. Niederlagen zeigen deutlich, was Wahlerfolge verschleiern. Krisen machen diese Diskrepanz sichtbar. Wir leben in Zeiten, in denen das traditionelle westeuropäische Parteiensystem in Auflösung begriffen ist.

Erstmals hat sich niemand für den SPÖ-Vorsitz aufgedrängt

Auffällig ist außerdem: Erstmals hat sich in der SPÖ wirklich niemand für den Vorsitz vor- und aufgedrängt. Kern ist zwar weg, aber die Seinen bleiben. Pamela Rendi-Wagner, für einige Monate Gesundheitsministerin im Kabinett Kern, wird im November den Parteivorsitz übernehmen. Politisch ist sie nicht vorbelastet, aber auch ziemlich unbedarft. Und dann ist da noch Thomas Drozda, jetzt Bundesgeschäftsführer, unter Kern Kanzleramtsminister. Die Führungsriege der Partei ist allerdings nicht identisch mit den Schwergewichten derselben, allen voran wären der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig und der designierte burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil zu nennen. Konflikte sind bloß aufgeschoben.

Ansonsten geht wieder einmal alles seinen obligatorischen Gang. Rendi-Wagner wird zum "Shootingstar" ausgerufen, bei öffentlichen Konferenzen erhält sie stehende Ovationen. Man ist ganz angetan. Vorerst. "Ich bin nicht Christian Kern", sagt die Neue. Ja, schon, aber das kann noch werden. Sie wird es jedenfalls nicht leicht haben, das zeigen die ersten kleineren Scharmützel. Indes müssen die Funktionäre der SPÖ sich hüten, noch einmal binnen kurzem das gleiche Spiel zu spielen. Ob ihnen das entgegen der Eigendynamik gelingt, ist fraglich. Wenn es nicht gelingt, dann wird die SPÖ sehr bald das Schicksal der SPD oder der französischen Sozialisten erleiden. Der Trend läuft sowieso in diese Richtung. Die europäische Sozialdemokratie ist ein Auslaufmodell. Die Perspektive ist trist.

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