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Der aufhaltbare Pensionssystem-Kollaps

Von Herbert Geyer

Gastkommentare

Im heurigen Juli veröffentlichte die Akademie der Wissenschaften eine internationale Vergleichsstudie, die zu dem Schluss kam, dass jeder europäische Sozialleistungsbezieher im Schnitt 0,9 zusätzliche Beitragszahler bräuchte, um die Sozialsysteme vor dem Kippen zu bewahren. Österreich steht mit einem Zusatzbedarf von 0,7 Beitragszahlern nur geringfügig besser da als der europäische Schnitt, aber auch der Klassenbeste Schweden bräuchte 0,4 zusätzliche Zahler, um sein Sozialsystem nachhaltig zu gestalten.

Hiobsbotschaften wie diese treffen mit unschöner Regelmäßigkeit ein. Erst im Vorjahr forderte eine "Aktion Generationengerechtigkeit", die im Umfeld des Cartellverbandes gestartet worden war, eine radikale Pensionsreform. "Das österreichische Pensionssystem zählt nicht nur zu den teuersten, sondern auch zu den am wenigsten nachhaltigen Modellen Europas", zitierte im November das Wirtschaftsmagazin "Trend" den früheren Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), Bernhard Felderer, der ebenfalls zu den Unterstützern dieser Aktion zählt: "Aus budgetärer Sicht können wir uns das heimische System auf Dauer nicht leisten. Wir entwickeln uns weiter, werden gesünder, leben länger und kosten das System immer mehr Geld - dass sich so etwas nicht ausgehen kann, liegt auf der Hand. Der Generationenvertrag ist damit in Gefahr."

"Nicht nachhaltig finanzierbar"

Er stößt damit ins selbe Horn wie die eingangs erwähnte ÖAW-Untersuchung: Im Europa-Schnitt beziehen Kinder und Jugendliche 16 Vollzeit-Erwerbseinkommen an Transferleistungen, die Zuzahlungen im Verlauf des Berufslebens summieren sich auf 15 Erwerbseinkommen, die Pensionisten konsumieren immer noch 6 Jahreseinkommen an Transfers - in Österreich sind es sogar 8.

"Wir werden immer älter - das ist wunderbar, aber es führt dazu, dass das jetzige Pensionssystem nicht nachhaltig finanzierbar ist", warnt daher Franz Schellhorn, Direktor des industrienahen Thinktanks Agenda Austria und ebenfalls ein Unterstützer der "Aktion Generationengerechtigkeit". Er rechnet im "Trend" vor, dass seit 1970 die durchschnittlich in der Alterspension verbrachte Zeit von 14 auf fast 22 Jahre gestiegen ist. Mussten dafür 1970 bereits 4 Milliarden Euro aus Steuergeldern an die Pensionskassen zugeschossen werden, sind es jetzt mehr als 20 Milliarden, also das Fünffache.

Folgerichtig fordert die Aktion Generationengerechtigkeit neben der Vereinheitlichung der Pensionssysteme die Anhebung des gesetzlichen und des faktischen Pensionsalters und damit eine Koppelung des Pensionsalters an die steigende Lebenserwartung. Und darüber hinaus eine Abflachung der Einkommenskurve für ältere Arbeitnehmer, was über sinkende Pensionsbeiträge in den letzten Jahren zu einem Absinken der Pensionshöhe führen würde. "Wir verdienen zur falschen Zeit das falsche Geld", zitiert der "Trend" Nationalbank-Präsident Claus Raidl, der sich ebenfalls für die "Aktion Generationengerechtigkeit" starkmacht, "man muss sich die Gehaltskurven ansehen - Familien werden gegründet, wenn man zwischen 25 und 35 ist, und nicht erst mit 55 Jahren." Unter 30-Jährige verdienen im Schnitt nur 57 Prozent dessen, was ein Mensch erhält, der mit 60 plus noch nicht aus dem Erwerbsleben ausgestiegen ist.

Drohende Altersarmut

Es ist ja nicht so, dass die Politik auf derartige Hiobsbotschaften nicht schon reagiert hätte. Seit 1995 wurde in unzähligen kleinen Reformen am Pensionssystem herumgeschraubt, um einerseits das tatsächliche Antrittsalter näher ans gesetzlich vorgesehene heranzuführen und andererseits möglichst unmerklich (Pensionisten sind ja auch Wähler, und sie werden immer mehr) die Pensionshöhe nach unten zu drücken. Von der Abschaffung der kostenlosen Anrechnung von Ersatzzeiten für die Ausbildung über steigende Abschläge bei vorzeitigem Pensionsantritt bis zur schrittweisen Anhebung der für die Pensionsberechnung herangezogenen Durchrechnungszeiträume hatten alle diese Reformen vor allem das Ziel, niedrigere Pensionsansprüche zu generieren.

Weil zugleich für die Berechnung dieser Ansprüche die Anpassung älterer Pensionsbeiträge weit unter der Inflationsrate erfolgt (die letzten Jahre also überproportional stark wirken), wirkt sich jeder Einkommensverlust kurz vor der Pensionierung überproportional aus. Und weil die Schaffung von Jobs für Ältere mit der Anhebung des faktischen Pensionsalters bei weitem nicht Schritt halten konnte, wechselt eine steigende Zahl von Menschen aus der Arbeitslosigkeit in die Pension - automatisch mit geringeren Pensionsansprüchen.

Wohin das führt, lässt sich am Beispiel Deutschland bereits gut ablesen: Dort beziehen bereits 48 Prozent der Pensionisten gesetzliche Altersrenten von weniger als 800 Euro im Monat, 62 Prozent weniger als 1000 Euro. Jetzt sollen ein Rentenpakt und ein Demografiefonds dafür sorgen, dass das Pensionsniveau bis 2025 nicht unter 48 Prozent der Aktiv-Einkünfte fällt. Was zumindest die extremsten Auswüchse der Altersarmut mildern würde, volkswirtschaftlich aber bei weitem nicht ausreicht.

Anpassung des Pensionsalters

Denn was bei den Debatten über die Pensionshöhe gerne vernachlässigt wird: Je höher der Anteil der Pensionisten an der Gesamtbevölkerung steigt, desto stärker wiegen ihre verfügbaren Einkommen in der gesamten Konsumkraft. Und in modernen Industriestaaten trägt der Konsum rund zwei Drittel zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Wenn die Pensionisten also als Konsumenten ausfallen, dann drückt das massiv auf das allgemeine Wirtschaftswachstum - und damit auf den Wohlstand auch der noch aktiv Beschäftigten.

Es müssen also andere Wege zur Lösung des Pensionsproblems gefunden werden. Einer davon - da hat die "Aktion Generationengerechtigkeit" schon recht - muss wohl die Anpassung des Pensionsalters an die steigende Lebenserwartung und eine Abflachung der Lebensverdienstkurve sein. Beides darf aber nicht dazu führen, dass das Pensionsniveau dadurch sinkt. Und das ist durchaus möglich, wenn man die Rechnungen der Hiobsschreier etwas genauer ansieht.

Wenn etwa Agenda-Austria-Chef Schellhorn ins Treffen führt, dass sich der Budget-Zuschuss zu den Pensionen seit 1970 verfünffacht hat, so entpuppt sich das - wie so viele seiner Warnrufe - als eine Art Milchmädchenrechnung. Denn seit 1970 ist auch das Preisniveau um 360 Prozent gestiegen (also auf das knapp Fünffache), vor allem aber hat das BIP seit damals auf 1351,6 Prozent seines Werts von 1970 zugelegt - es beträgt also bereits mehr als das Dreizehnfache von damals. Der Beitrag, der aus dem Budget für die Pensionen zugeschossen werden muss, ist dadurch von 14,6 auf 5,4 Prozent des BIP gesunken.

Und dort liegt der Schlüssel des Problems: Da sich das BIP in den vergangenen Jahrzehnten etwa alle 20 Jahre real verdoppelt hat, stellt sich die Frage der Finanzierung welcher Aufgabe auch immer eigentlich nicht mehr: Wir können uns aus diesem Zuwachs so gut wie alles leisten - es ist nur eine Frage der Verteilung.

Arbeitgeberbeiträge abschaffen

Derzeit wird das Pensionssystem praktisch ausschließlich aus Beiträgen der Aktiven finanziert - je zur Hälfte von direkten Sozialversicherungsbeiträgen der Beschäftigten und von Arbeitgeberbeiträgen. Für die Gesamtrechnung ist diese Unterscheidung irrelevant, da der Arbeitgeber, der vor der Entscheidung steht, einen neuen Beschäftigten einzustellen, natürlich dessen gesamte Lohnkosten (also inklusive aller Dienstgeberabgaben) in die Berechnung einfließen lässt. Und weil zwischen dem Nettoeinkommen des Arbeitnehmers und den Lohnkosten für das Unternehmen eine Steuer- und Abgabenlast (Lohnsteuer, Sozialversicherungsbeiträge, Lohnsummensteuern) von 50 bis 100 Prozent des Nettobetrags liegt, wird es zunehmend unwirtschaftlich, neue Arbeitnehmer einzustellen - was diese in prekäre Beschäftigungsformen drängt und unter anderem deren Pensionsbeiträge verringert, da (Schein-)
Selbständige einen deutlich geringeren Teil ihres Einkommens an Sozialversicherung bezahlen als Angestellte. Fazit: Nichts wird derzeit in Österreich so hoch besteuert wie Arbeit. Eine Abschaffung der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung (und am besten gleich aller Lohnsummensteuern, von der Wiener U-Bahn-Steuer bis zu jenem Teil der Wirtschaftskammer-Beiträge, die von der Lohnsumme berechnet werden) würde daher zu mehr legalen Beschäftigungsverhältnissen führen und auf diesem Weg auch zu mehr Pensionsbeiträgen.

Neue Steuereinnahmen finden

Die Einnahmen, die durch die Abschaffung der Lohnnebenkosten ausfielen, müssten natürlich durch andere Abgaben ausgeglichen werden, was eine Herausforderung für die Wirtschaftsforschung darstellt: Es gilt neue Einnahmen zu finden, die nicht an die Beschäftigung gekoppelt sind und denen man trotzdem nicht so leicht entkommen kann wie etwa der Gewinnbesteuerung (Stichwort Starbucks, Google oder Amazon). Primär drängt sich da eine Grundsteuer auf, die sich am tatsächlichen Verkehrswert der Immobilien orientiert (weil Grundstücke nicht ins Ausland transferiert werden können), natürlich auch die Mehrwertsteuer (weil sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigt, aber den gesamten Inlandskonsum erfasst), der Rest sei der Tüftelei der Experten überlassen. Einzige Auflage: Die Gesamt-Steuerbelastung darf dadurch nicht steigen. Das ist aber auch gar nicht nötig, da durch mehr legale Beschäftigung ja der Kuchen insgesamt wächst.

Was übrigens manche als Mittel der Pensionssicherung propagieren, ist bei näherem Hinsehen keines: Private Vorsorge über den Finanzmarkt ist gegenüber der demografischen Entwicklung zumindest genauso anfällig wie das aktuelle Umlagensystem. Solange durch Einzahlungen in solche Sparpläne mehr Geld ins System fließt, steigen die Kurse. Sobald aber - weil mehr Pensionisten weniger Einzahlern gegenüberstehen - die Entnahmen überwiegen, sinken zwangsläufig die Kurse - und damit auch die Erträge der Pensionsvorsorge. Und wer in Zeiten einer Nullzins-Politik an private Vorsorge glaubt, dem ist ohnehin nicht zu helfen.

Unser Sozialwesen steht vor dem Kippen - es gibt aber noch Möglichkeiten, dies zu verhindern.

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